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Ein großes, geschwungenes H ziert Ilham Oukhiars Unterarm. Das H steht nicht etwa für einen Namen eines Familienmitglieds oder einer verflossenen Liebe – das H auf Oukhiars Unterarm symbolisiert den 4357. Buchstaben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Denn Ilham Oukhiar, niederländisch-marokkanische Journalistin, wurde Teil des Kunstprojekts “Human Rights Tattoo”. Die Idee: Bei Events auf der ganzen Welt können sich Teilnehmer*innen nach und nach jeweils einen der 6773 Buchstaben der Menschenrechtserklärung an einer beliebigen Stelle und in einer beliebigen Schriftart stechen lassen.
Ins Leben gerufen von Künstler Sander van Bussel, hat das Projekt zum Ziel, wieder für die 1948 verkündeten Menschenrechte zu sensibilisieren. “Und wie könnte man dieses Ziel besser erreichen, als einen bleibenden Eindruck auf der menschlichen Haut zu hinterlassen?”, fragt die “Stichting Human Rights Tattoo Foundation” auf ihrer Website. Denn jedes Tattoo biete den Aufhänger für ein Gespräch über die so wichtigen Menschenrechte.
Und auf die Frage, was der Buchstabe hinter dem Ohr, am Fußgelenk oder auf dem Rücken bedeutet, hat jede*r der bislang 4370 Tätowierten eine andere Antwort. Sie finden sich alle auf der Website des Projekts.
“Die Menschenrechte sind in meinen Augen sehr wichtig, weil sie ein Grundrecht sind, das aber nicht jeder bekommt. In meinem Land wurde gerade ein neuer Präsident gewählt, der die Menschenrechte abwertet und ich habe wirklich Angst um meine Landsleute”, schreibt etwa Andrea Joana Oliva Samaniego von den Philippinen. Die Buchstaben werden den Teilnehmer*innen des Projekts zufällig zugewiesen. Samaniego trägt den Buchstabe 2974 unter der Haut – ein R aus Artikel 18: “Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.”
Lutta Boniface Mark aus Uganda erklärt: “Ich bin von meinen Freunden, denen ich von meiner Sexualität (homosexuell) erzählt habe, so nett behandelt worden. Ich würde mir daher wünschen, dass der Rest der LGBT-Menschen genauso liebevoll behandelt wird. Ich hoffe, dass mein Tattoo ein Symbol der Hoffnung für die LGBT-Community und die gesamte Menschheit sein soll. Hoffnung, dass die Liebe immer gewinnt.” Er trägt ein E aus dem Satz “Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu erhalten.”
Ilham Oukhiars H stammt aus folgendem Artikel: “Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.” Ihre Intention hinter dem Tattoo: “Ich glaube zutiefst an die Wichtigkeit von Menschenrechten und deren Darstellung. Als niederländisch-marokkanische muslimische Woman of Color sehe und spüre ich die Bedeutung von Gleichberechtigung. Menschenrechte sind essentiell, um eine gleichberechtigte Welt für jeden einzelnen von uns zu schaffen. Ich strebe danach, mit meinen eigenen Fähigkeiten dazu beizutragen. Mein Human Rights Tattoo dient als ständige Erinnerung an dieses Ziel.”
Human Rights Tattoo: So kannst du Teil der Aktion werden
Wer sich ebenfalls ein “Human Rights Tattoo” stechen lassen möchte, der muss an einem der Events teilnehmen. Wann und wo das nächste stattfindet, wird hier bekannt gegeben. Human Rights Tattoos werden auf Spendenbasis gestochen: Jede*r darf selbst entscheiden, wieviel er oder sie zahlen kann. So wird sichergestellt, dass niemand aufgrund seiner Herkunft oder seines Einkommens ausgeschlossen wird.
Pro Event gibt es eine begrenzte Teilnehmeranzahl, meist etwa 50 bis 80. Es ist also sinnvoll, möglichst früh dort anzukommen – zumindest galt das für die Zeit vor der Pandemie. Denn beim Termin im vergangenen Dezember wurde eine Vorauswahl getroffen. Dazu mussten alle Bewerber*innen ein kurzes Motivationsschreiben einreichen. Auf Basis der Einsendungen sowie des Diversitätsprinzips wurden dann 72 Menschen eingeladen.
Auch Journalistin Ilham Oukhiars hat ihr Tattoo erst vor einigen Wochen erhalten: Am 10. Dezember, dem 72. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, konnten sich 72 Menschen tätowieren lassen. Das Event fand im Museum Mauritshuis in Den Haag statt. Jeder, der trotz Pandemie in der Lage war, nach Den Haag zu reisen, konnte sich um ein Tattoo bewerben. Dennoch schrieben die Veranstalter auf der Seite: “Wir raten von jeglichen internationalen oder unnötigen Reisen ab.”
Für Menschenrechte zu sensibilisieren ist besonders in der aktuellen Lage wichtig. Denn der Blick auf marginalisierte Gruppen zeigt: Die Pandemie trifft sie unverhältnismäßig stark. Menschen in schwer erreichbaren, ländlichen und von Armut betroffenen Gebieten profitieren als letzte von Corona-Tests und -Impfungen. Zudem wird die Pandemie womöglich Millionen Jungen und Mädchen in Kinderarbeit zwingen. Und durch die Lockdowns verbringen Menschen mehr Zeit zuhause, wodurch es einen Anstieg bei häuslicher Gewalt gab. Die aktuelle Krise macht also deutlich, dass es beim Thema Menschenrechte – etwa Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung – großen Nachholbedarf gibt.