Jim Estill, Direktor eines millionenschweren Unternehmens, setzten die Nachrichten aus dem Kriegsland Syrien immer mehr zu. Zerstörte Häuser und Städte, Tausende fliehende Menschen und traumatisierte Kinder. Das Grauen aus Syrien lässt sich kaum in Worte fassen. Seit mittlerweile neun Jahren herrscht in dem Land ein Krieg, der kein Ende zu finden scheint. 2017 beschloss Jim Estill deshalb, nicht mehr tatenlos zuzusehen. Er wollte helfen.
Dafür gibt es viele Wege. Doch statt sein Geld an eine große internationale Organisation zu spenden oder seine Regierung dazu aufzufordern, etwas gegen den Krieg in Syrien zu unternehmen, wollt er selbst aktiv werden. Als Multimillionär hat er natürlich andere Möglichkeiten als die meisten Menschen. Aber sagen wir mal so: Von vielen Multimillionären hat man schon gehört, die das getan haben, was Jim Estill getan hat? Eben.
Und von jetzt auf gleich ging das Ganze auch für einen reichen Mann wie Estill nicht. Er musste erst rund 1,13 Millionen Dollar – umgerechnet über eine Million Euro – ansparen (was ihn allerdings nicht sehr viel Zeit kostete). Dann nahm er das Geld und setze es dafür ein, 58 syrische Familien ins sichere Kanada zu holen, in seine Heimat.
In anderen Ländern hätten Estills Pläne nicht realisiert werden können. In Kanada ist das anders. Denn Kanada öffnet seine Türen, wenn es um Einwanderung geht. Das Land hat in den letzten Jahren bereitwillig Tausende Flüchtlinge aufgenommen und integriert.
In Kanada ist die Einwanderung – vor allem von Flüchtlingen – weniger bürokratisch als in einigen anderen Ländern. In den angrenzenden USA zum Beispiel müssen Flüchtlinge aus Syrien strikte Sicherheitsüberprüfungen über sich ergehen lassen, um auch nur die Chance auf ein Bleiberecht zu bekommen. Seit Trump zum Präsidenten gewählt wurde, stehen die Chancen noch schlechter. Die kanadische Regierung beschleunigt hingegen sogar den Prozess, wenn Privatpersonen Flüchtlinge selbst finanziell unterstützen und ihnen bei der Übersiedlung behilflich sind.
"Kanada hat sich dazu verpflichtet, Verantwortung angesichts der globalen Flüchtlingskrise zu zeigen”, sagt Kanadas Einwanderungsminister John McCallum. "Wir haben aus erster Hand erlebt, wie viele kanadische Bürger Flüchtlinge aus der ganzen Welt finanziell unterstützen und ihnen bei der Einwanderung nach Kanada helfen. Wir können anderen Ländern nur das gleiche ans Herz legen.”
Privatpersonen müssen allerdings nicht nur für das Flugticket nach Kanada aufkommen, sondern auch die Lebenshaltungskosten eines ganzen Jahres decken, sodass die Flüchtlinge auf keine staatliche Hilfe angewiesen sind. Im ganzen Land schließen sich daher Nachbarschaften zusammen, um Flüchtlinge finanziell zu unterstützen und ihnen eine Unterkunft, Kleidung und Lebensmittel zur Verfügung zu stellen.
Jim Estill rechnete aus, dass er für eine vierköpfige Familie ca. 30.000 Euro bezahlen müsste. Gesagt, getan. Aber welcher Familie sollte er helfen? Er wusste, dass die Auswahl EINER Familie so zufällig (und unfair) sein würde wie ein Sechser im Lotto. Aber er konnte auch nicht allen Familien helfen, deshalb musste Estill harte Entscheidungen treffen
A remarkable man (@jimestill) and remarkable story about conviction: https://t.co/0Cr7FWj091 via @torontolife
— Amrita Mathur (@AmritaMathur) January 8, 2017
"Im Grunde spielt man Gott”, sagt Estill dem Guardian. "Du bist derjenige, der entscheidet, wer überlebt und wer stirbt, wer kommen darf und wer nicht."
Estill hat sich letztendlich dazu entschieden, Menschen auszuwählen, von denen er annimmt, dass sie sich am schnellsten integrieren können. Entweder, weil sie bereits Familie in Kanada haben oder aber mit der ganzen Familie nach Kanada kommen können.
Estill schaltete eine Art Anzeige – und konnte sich kurz danach vor Anfragen kaum noch retten.
Sobald sich diese Familien eingelebt haben, plant Estill, weiteren 50 Familien ins Land zu verhelfen. Er will solange er kann und solange Hilfe gebraucht wird, weitermachen.
Seine Courage und seine Beharrlichkeit haben viele weitere Menschen in Guelph, der kleinen Stadt, in der Estill wohnt, inspiriert. Rund 800 Freiwillige haben ihre Hilfe angeboten, den Neuankömmlingen den Anfang so einfach wie möglich zu gestalten. So werden zum Beispiel Berufsausbildungen und Englischkurse angeboten und fast jede Familie wird von einem Dolmetscher unterstützt.
Und auch Estill selbst scheint weiterhin alles in seiner Macht stehende zu tun, um den Familien schnell wieder zu mehr Eigenständigkeit zu verhelfen. Er sieht sich immer wieder nach Möglichkeiten um, die Flüchtlinge mit anderen Menschen in Verbindung zu bringen und zahlt auch für sämtliche Dienste, die die Familien brauchen - sei es ein Arztbesuch oder sonstiges. Vor allem aber ist er eins, nämlich diese eine Person, die man braucht, wenn man aus dem Nichts heraus in der Fremde von vorne anfangen muss: ein Freund.
Ein Syrier, dem Estill half, einen Bankkredit aufzunehmen, um ein neues Geschäft zu starten, sagte: "Ich dankte ihm für seine Großzügigkeit und erzählte ihm, dass noch nie zuvor jemand so großzügig zu mir und meiner Familie war wie er.”
Estill zeigt der Welt, dass es auch anders gehen kann. Wie es ist, Menschen mit offenen Armen zu empfangen, statt wegzuschauen. Gerade in Zeiten, in denen negative Kommentare und Hass viele Gespräche über die Flüchtlingswellen zu dominieren scheinen, in denen Politiker Kriege befeuern, anstatt sie zu beenden, in denen Grenzen geschlossen werden, statt geöffnent, ist die Selbstlosigkeit von Jim Estill eine wichtiges Signal der Menschlichkeit.
"Ich weiß noch immer nicht, was groß dabei ist. Und ich bin überrascht, dass nicht mehr Menschen das Gleiche tun”, sagte er dem Guardian. "Ich möchte nicht alt werden und meinen Enkeln erzählen müssen: ‘Ich stand nur daneben und habe nichts gemacht.’ Deshalb tue ich das, was ich tun kann.”