Während Suhani Jalota an der Stanford University in Kalifornien studiert, denkt sie an die Frauen in ihrem Leben, die sie auf ihrem Weg dahin begleitet haben. Ihre Mutter ist inzwischen Modedesignerin und arbeitet im Finanzbereich. Doch als junge Frau in Indien litt sie an der systematischen Freuenfeindlichkeit und Diskriminierung im Land.
“Meine Mutter musste sich [als junge Frau] an ein striktes Ausgehverbot halten. Sie musste jeden Abend ab etwa 16 Uhr zu Hause sein”, erzählt Jalota gegenüber Global Citizen. ”Mein Vater, mit dem sie eine arrangierte Ehe führte, war damals fast der erste Mann außerhalb der Familie, dem sie begegnete.”
Jalotas Großmutter war das, was man als “Wunderkind” bezeichnen würde. Sie arbeitete als professionelle Sängerin, heiratete aber mit 19 Jahren. Ihre Karriere und damit Leidenschaft für die Musik musste sie dann aufgeben.
“Ich wurde mir über diese Ungerechtigkeiten in meiner Familie bewusst. Und darüber, dass meine Mutter die erste war, die sich dagegen wehrte”, fügt sie hinzu. “Ich möchte damit weitermachen. Jedes Mädchen sollte das Recht dazu haben.”
Gleichberechtigung für Frauen und Mädchen udn damit das Recht, ihr Leben selbst zu gestalten, liegt Jalota schon immer am Herzen. Nun wurde sie für ihr Engagement zusammen mit zwei weiteren Aktivist*innen als Finalistin des Global Citizen Prize: Cisco Youth Leadership Award 2020nominiert. Der Preis ist mit 250.000 Dollar dotiert, um die erstplatzierte Organisation zu unterstützen.
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Als Jalota 20 Jahre alt war, gründete sie die Myna-Mahila-Foundation. Das Sozialunternehmen bildet Frauen nicht nur aus und gibt ihnen Arbeit, es verbessert auch den Zugang zu umweltfreundlichen Menstruationsprodukten. In den vergangenen sechs Jahren hat die Stiftung über 10 Millionen umweltfreundliche Hygienebinden hergestellt und damit über 550.000 Frauen in über 15 Gemeinden in den Slums von Mumbai versorgt.
Jalota wurde für ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet, wie etwa 2017 mit dem Queen's Young Leaders Award. In diesem Zusammenhang traf sie Queen Elizabeth II. persönlich. Die Queen fragte sie, was Slum-Governance ist und lobte Jalota: “Was Sie tun, ist wirklich wichtig.”
Der Anfang ihres Engagements war das in ihr brodelnde Bewusstsein über die Ungerechtigkeit. Ihr Instinkt, dass da etwas schief läuft, verstärkte sich, als Jalota mit 14 Jahren die Diagnose Krebs erhielt. Diese brachte sie mit den Frauen zusammen, denen sie seitdem ihr Leben widmet.
“Ich sah die Menschen in den Krankenhausbetten neben mir. Während ich aus einer Regierungsfamilie stamme, sodass die Regierung einen Großteil meiner Rechnungen zahlt, konnten die anderen ihre Rechnungen nicht begleichen”, sagt Jalota. “Es gibt massive Ungleichheiten beim Zugang zu medizinischer Gesundheitsversorgung. Das war einfach ungerecht.”
Jalota beschloss, sich gegen diese Ungleichheit einzusetzen. Diese Entscheidung führte sie in die Slums von Mumbai und auf die Spuren ihrer Familie. Ihre Mutter hatte einige Zeit zuvor mit unterprivilegierten Kindern gearbeitet. Jalotas Vater war in der Abwasserentsorgung tätig. Und ihr Bruder stellte Wasserfilter für von Armut betroffenen Gemeinden her. Die Frauen, die Jalota auf ihrer Spurensuche traf, teilten mit ihr die dunkelsten Geheimnisse der Stadt. Und sie veränderten Jalotas Leben.
“Kurz nachdem ich [vom Krebs] genesen war, ging ich in die Slums und fing an, mit den Frauen vor Ort zu arbeiten”, sagt Jalota. “Mit einem Lächeln im Gesicht erzählten sie mir, wie sie im Alter von 12 Jahren geheiratet haben. Sie erzählten mir, dass ihre viel, viel älteren Ehemänner sie misshandelten, ständig betrunken waren und sie um Geld baten.”
“Die Frauen haben deshalb vier bis fünf Jobs, sie kümmern sich um die Kinder und ernähren diese auch. Denn die Ehemänner haben oft absolut kein Einkommen”, fährt sie fort. “Die Frauen müssen weite Strecken zurücklegen, etwa zu öffentlichen Toiletten. Auf diesem Weg werden sie von Fremden belästigt. Sie sehen ihre Kinder sterben. Doch sie mussten lernen, all das als Normalität zu akzeptieren.”
Sie fügt hinzu: “Diese Frauen dachten, dass es niemanden kümmert, was sie eigentlich wollen. In ihrem Leben ging es vielmehr darum, einfach nur zu überleben.”
Die Probleme, mit denen sich diese Frauen in den Slums konfrontiert sahen, waren alle miteinander verbunden: Armut, Gewalt, wenig Bildung, fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung. Und Jalota wollte ihnen unbedingt helfen. Dabei gingen ihr immer wieder die Worte ihres Mentors durch den Kopf – des für den Friedensnobelpreis nominierten Aktivisten Dr. Jockin Arputham:
“Sie können nicht in die Slums gehen, um Probleme zu lösen”, sagte er. “Es würde nichts ändern. Sie müssen ihre Probleme dort allein lösen. Sie können Ihnen lediglich Stärke und Selbstvertrauen vermitteln, damit sie selbst dazu in der Lage sind.”
Er brachte Jalota bei, dass eine Toilette ein Symbol von Freiheit ist. Denn eine eigene Toilette ermöglicht so viel mehr – wie etwa die Suche nach einem Job oder die Töchter zur Schule zu schicken. Jalota hielt Kontakt zu den Frauen in den Slums, denn mittlerweile waren viele Freundschaften entstanden. Sie bemerkte einen roten Faden, der sich durch alle ihre Probleme hindurch zog:
“Menstruationshygiene und sanitäre Einrichtungen... [waren] etwas, das die Würde der Familien bewahrte oder aber bloßstellte”, sagt sie. “Wir mussten schwierige Gespräche führen, um das Thema der Geschlechterunterschiede in den Haushalten zur Sprache zu bringen.”
Seit über zehn Jahren arbeitet Jalota in den städtischen Slumgemeinden von Mumbai und hört sich die Geschichten der Frauen an. Sie berichten ihr von “Leid, Respektlosigkeit und Scham”. Aus erster Hand erfährt sie, inwiefern “Frauen und Mädchen in einer gesellschaftlichen Falle stecken”. Die Geschichten der Frauen inspirierten Jalota dazu, sich mit Leiter*innen von Gemeinden zusammenzuschließen. Gemeinsam starteten sie eine Bewegung, die “Frauen hilft, sich selbstbewusster zu fühlen, zusammenzukommen und finanziell unabhängig zu werden”.
Nach und nach wuchs diese Arbeit zur Myna-Mahila-Stiftung heran. 2015 wurde diese dann offiziell gegründet. Die Stiftung ist nach dem “Myna” benannt, einem südasiatischen, sprechenden Vogel, der für seine laute Stimme bekannt ist – ein passendes Sinnbild für eine Stiftung, die Frauen eine Stimme gibt und sie ermutigt, sich mit ihr gegen Ungerechtigkeiten zu wehren.
Bei ihrer Arbeit erfuhr Jalota von den Frauen, wie stolz es sie macht, selbst Lösungen für Probleme zu finden und selbst Dinge zu schaffen – und sei es nur eine selbst gekochte Mahlzeit. Daraus wuchs die Idee, Menstruationsbinden zu produzieren. Denn die Frauen können sie selbst herstellen, damit den Zugang zu Menstruationshygiene verbessern und indirekt finanzielle Unabhängigkeit fördern.
Jalotas “Aktionsplan” sah eigentlich vor, in den kommenden fünf Jahren zwei Millionen weitere menstruierende Menschen und Frauen in ganz Indien zu erreichen. Doch wie überall auf der Welt brachte die COVID-19-Pandemie so einiges durcheinander.
Mit aktuell 8,5 Millionen Fällen und mehr als 126.000 Todesfällen ist Indien nach den Vereinigten Staaten der weltweit zweitgrößte Hotspot für das Virus. Als Indien im März zum ersten Mal in einen Lockdown ging, passte sich Jalotas Stiftung an die Situation an. Mithilfe eines Acht-Punkte-Plans und neuer Teammitglieder unterstützte Myna-Mahila vorrangig die Menschen in den umliegenden Govandi-Slums.
Zunächst begann die Organisation, Gesichtsmasken herzustellen und sie zusammen mit Lebensmittelrationen und Informationsmaterialien an Haushalte zu verteilen. Auch im Bereich Sanitär und Infektionsüberwachung half Myna-Mahila. Gleichzeitig schnellte das Ausmaß von häuslicher Gewalt in die Höhe, sodass die Organisation zahlreiche Frauen an eine andere Wohltätigkeitsorganisation in Mumbai verweisen musste.
Zusätzlich startete Myna-Mahila eine App für Videos mit verifizierten Informationen zur Pandemie und zu Menstruationshygiene. Zudem können menstruierende Menschen darüber ihre Periode tracken.
“Wir fühlten uns verantwortlich”, sagt sie. “Wir mussten uns reinhängen und diese Menschen unterstützen. Denn ehrlich gesagt gab es sonst niemanden, der das getan hätte.”
Bei Jalotas Geschichte geht es um Grassroots-Aktivismus. Doch ihr Projekt fand schnell auch internationale Anerkennung – unter anderem von einer der berühmtesten Frauen der Welt. Sie fand Jalota so inspirierend, dass sie anschließend Monate damit verbrachte, mehr über ihr Engagement herauszufinden.
Das kam so: Nachdem Jalota bei den Glamour College Women of the Year Awards gewonnen hatte, war sie im April 2016 nach Manhattan, New York gereist. Sie war die erste internationale Studentin, die die Auszeichnung erhielt. Und als sie dort eine Rede über Menstruationshygiene hielt, saß zufällig auch Meghan Markle im Publikum und hörte ihr zu.
Sie trafen sich kurz für ein gemeinsames Foto. Doch Jalota hatte weder Meghan Markles Serie “Suites” gesehen, noch wusste sie, dass sie mit Prinz Harry zusammen war. Drei Monate später erhielt sie von Markle eine E-Mail. Darin stand, sie habe seit Ewigkeiten versucht, Kontakt aufzunehmen. Auf die E-Mail folgte ein Videotelefonat. Und Meghan Markle plante sogar einen Besuch bei Myna-Mahila in Mumbai – zu dem es im Januar 2017 auch kam.
Ein Jahr später lud Meghan Markle Jalota zur königlichen Hochzeit ein. Die Aktivistin reiste gemeinsam mit zwei Kolleginnen nach Großbritannien, wo ihnen ständig die Hände geschüttelt und zu ihrer Arbeit gratuliert wurde. “Es war fantastisch, das zu erleben”, sagt Jalota.
Anstatt Hochzeitsgeschenke mitzubringen, bat Markle ihre Gäste, an eine von sieben verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden – darunter auch Myna-Mahila.
Neben der 29-jährigen indischen Gesundheitsaktivistin Prima Prakash, die 2019 den Global Citizen Prize:Cisco Youth Leadership Awardgewann, stand 2018 auch Jalota auf der Forbes-Liste der “Top 30 Aktivist*innen unter 30 Jahren” in der Rubrik “Sozialunternehmer in Asien”. Durch Prakash erfuhr Jalota auch vom Cisco Youth Leadership Award.
“Der Preis ist eine Plattform, über die unsere Mädchen [und Frauen] wirklich Gehör finden könnten”, sagt Jalota. “Das Preisgeld ist sehr hoch und würde uns große Träume, vielleicht sogar die Erfüllung unserer Vision ermöglichen. Das bedeutet uns sehr viel.” Für ihre Stiftung wäre es dies die Chance, den verbesserten Zugang zu Menstruationshygiene von Mumbai in den Rest Indiens und von dort aus in die ganze Welt zu tragen.
Jalotas langfristiger Traum ist der Aufbau von Myna-Mahila-Campusse in ganz Indien. Sie meint damit physische Einrichtungen mit Wohnraum für die dort arbeitenden Frauen, mit Angeboten für Schulungen und Führungskräfteausbildungen.
Jetzt, wo die Welt sich langsam in die Richtung bewegt, der Pandemie ein Ende zu bereiten, blickt Jalota in eine Zukunft voller Mitgefühl und Tatkraft und dankt den Frauen in ihrem Leben.
Sei dabei, wenn Global Citizen im Dezember 2020 die Menschen auszeichnet, die sich dieses Jahr angesichts unvorhersehbarer globaler Herausforderungen für eine gerechtere Welt eingesetzt haben.
Der Global Citizen Prizebringt Aktivist*innen, Weltstars und globale Entscheidungsträger*innen im Rahmen einer großen TV-Show zusammen: Mit Auftritten internationalen Künstler*innen und inspirierenden Geschichten von Aktivist*innen rund um den Globus wollen wir ein hoffnungsvolles Zeichen setzen. Mehr über den Global Citizen Prize erfährst du hier.