Die COVID-19-Pandemie stellt für indigene Gemeinschaften im Amazonas-Regenwald eine besonders große Gefahr dar. Jahrelang wurde ihr Land durch Waldbrände, Industrieprojekte und den Städteausbau zerstört. Dass die Völker einerseits isoliert leben und andererseits dem Virus ausgeliefert sind, macht sie besonders anfällig für Infektionen und schwere Verläufe.
Sie leben oft fernab von Kliniken und medizinischen Einrichtungen – die Reisen dorthin dauern Stunden. Dennoch sind sie einer Infektion oft ausgeliefert: Denn Menschen von außen durchqueren ständig ihren Lebensraum, etwa um Ressourcen auszubeuten. Dabei verschmutzen sie unter anderem die Nahrungs- und Trinkwasserquellen der indigenen Menschen, was sich negativ auf ihr Immunsystem auswirkt.
Schon im März warnten die Vereinten Nationen vor dieser gefährlichen Dynamik. Leider sind die Befürchtungen wahr geworden.
Anfang September war die COVID-19-Sterblichkeitsrate unter den indigenen Völkern Brasiliens laut der Thomson Reuters Foundation um 250 Prozent höher als in der Allgemeinbevölkerung. Ende September hat die brasilianische Regierung deshalb Militärärzt*innen entsandt, um die medizinische Notversorgung des Guajajara-Stammes im Bundesstaat Maranhão zu unterstützen.
Internationale Einrichtungen wie die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (PAHO) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeiten ebenfalls daran, indigene Völker vor dem Virus zu schützen – aber sie benötigen mehr finanzielle Mittel.
Global Citizen schließt sich der PAHO an und ruft ebenfalls dazu auf, indigene Gemeinschaften im Amazonas-Regenwald finanziell zu unterstützen. Nur so können die Pandemie eingedämmt und ähnliche Ausbrüche in Zukunft verhindert werden.
Jessica Tome ist Analytikerin für den Amazonas-Wissenschaftsausschuss des Sustainable Development Solutions Network. Global Citizen hat sie gefragt, welche konkreten Folgen die Pandemie für indigene Menschen hat und was wir tun können, um zu helfen.
Global Citizen: Indigene Gemeinden sind besonders anfällig für die COVID-19-Pandemie. Welche Gründe hat das?
Jessica Tome: In Lateinamerika und der Karibik litten indigene Gemeinschaften schon in der Vergangenheit unter Ungleichbehandlung. Sie werden wegen ihres geringeren Einkommens, niedrigeren Bildungsniveaus und anderen sozialen Faktoren benachteiligt. Diese Kriterien, aber auch geografische Hürden, Diskriminierung, Stigmatisierung und ihr Zugang zu medizinischer Versorgung entscheiden über ihre Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Aus diesen Gründen sind indigene Bevölkerungsgruppen besonders anfällig für Coronavirus-Infektionen generell und solche mit tödlichen Verläufen.
Die COVID-19-Pandemie stellt somit eine erhöhte Gefahr für die Gesundheit indigener Völker dar – ganz gleich, ob sie in städtischen oder in abgelegenen Gebieten ohne ausreichende Gesundheitsversorgung leben.
Beim Thema Gesundheit sind indigene Bevölkerungen ganz verschiedenen Risikofaktoren ausgesetzt – auch ohne Pandemie: parasitäre Krankheiten, Unterernährung, ungenügender Zugang zu Gesundheitsversorgung, Trinkwasser und Sanitäranlagen.
Zusätzlich kommen durch die Corona-Pandemie weitere Risiken für indigene Völker in Amerika hinzu:
- In einigen Ländern steigt das Ausmaß zwischenmenschlicher Kontakte zwischen indigenen und nicht-indigenen Gruppen.
- Zwischenmenschliche Kontakte erhöhen das Risiko, sich mit Krankheitserregern wie SARS-CoV-2 zu infizieren.
- COVID-19-Infektionen zusätzlich zu anderen Krankheiten mit hoher Prävalenz (zum Beispiel Tuberkulose), können zu hohen Sterblichkeitsraten unter indigenen Gruppen führen.
- Isolierte Dörfer haben eine viel höhere Bevölkerungsdichte als leichter erreichbare Dörfer, was die Anzahl der sozialen Kontakte erhöht.
- Die Ernährung vieler indigener Bevölkerungsgruppen hängt von Jagd und Fischfang ab. Das erschwert die Umsetzung von Eindämmungsmaßnahmen, etwa Quarantäne und Isolation.
- Indigene Gruppen bewegen sich häufig in Gebieten, die zwischen zwei Ländern liegen. Das erhöht das Risiko, sich mit Krankheitserregern wie Covid-19 anzustecken und diese über Ländergrenzen hinweg zu verbreiten.
- Geheime Abholzung von Amazonasgebieten und illegale Bergbauaktivitäten können in isolierten indigenen Gemeinschaften zu Ausbrüchen führen.
- Die Vertreibung von indigenen Völkern aus Dörfern, wo sie Sozial- und Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen wollen, wurde mit Ausbrüchen übertragbarer Krankheiten in Verbindung gebracht
Wie hat sich die Coronavirus-Pandemie auf den Schutz und die Erhaltung des Amazonas ausgewirkt?
Beim Zugang zu medizinischer Versorgung stellt COVID-19 indigene Völker vor zusätzliche Herausforderungen. Zwar haben verschiedene Organisationen eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus im Amazonas etwas eindämmen können. Doch durch die Maßnahmen, etwa Quarantäne und Isolation, sind andere Bedrohungen präsenter geworden. Beispielsweise haben Abholzung, Rohstoffabbau sowie Verfolgung und Kriminalisierung indigener Führer während der COVID-19-Pandemie drastisch zugenommen. Das macht die indigenen Gemeinschaften in Bezug auf die Pandemie wiederum verwundbarer.
Was muss getan werden, um indigene Gemeinschaften in Zukunft vor Pandemien und anderen Gesundheitsgefahren zu schützen?
Die PAHO und die WHO empfehlen den UN-Mitgliedsstaaten, die besondere Situation indigener Völker im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zu beachten. Sie sollen die Gemeinschaften in die Planung und Umsetzung von Gegenmaßnahmen einbeziehen. Die Strategie soll an die spezifischen Risikofaktoren und die Kultur der indigenen Gemeinschaften angepasst sein.
1. Lückenlose Gesundheitsversorgung für indigene Gemeinschaften
- Gesundheitspersonal für die epidemiologische Überwachung einsetzen
- Schutzausrüstung für den persönlichen Gebrauch sowie für Gesundheitszentren (etwa Toilettenartikel, aber auch Leichensäcke) anschaffen
- Verstärkter Austausch mit dem Gesundheitsministerium über Risiken; genügend Material für Tests und die Überwachung der Pandemie sicherstellen (einschließlich PPE)
- Örtliches Gesundheitspersonal ausbilden, auch Strafvollzugszentren, Altenheime sowie mobile Gesundheitseinheiten entsprechend ausstatten und unterstützen – in Bezug auf nicht-ärztliches medizinisches Personal, Impfungen, den Umgang mit chronischen Krankheiten und Schwierigkeiten beim Thema Krankenversicherung
2. Die strukturierte Überwachung der Pandemie innerhalb der Gemeinden als Priorität ansehen
- Funkgeräte und Zubehör anschaffen, um die Gemeinden in das Gesundheitssystem zu integrieren und Überweisungen der Patient*innen an Kliniken oder bestimmte Ärzt*innen zu erleichtern
- Das System der Kontaktverfolgung und die Kapazitäten der Gesundheitszentren ausbauen
3. Die administrative und logistische Rolle des Gesundheitsministeriums stärken
- Technische Unterstützung für das Gesundheitsministerium in Bezug auf Notfallpläne und die Verwaltung von Spenden
- Ausreichend über die Lage der Pandemie informieren und kommunizieren
Für verschiedene Lebensrealitäten sind unterschiedliche Maßnahmen und Strategien notwendig, um die Pandemie zu bekämpfen – von Menschen in Städten oder Dörfern über indigene Gemeinschaften bis hin zu indigenen Migrant*innen. Denn mit verschiedenen Rahmenbedingungen geht ein unterschiedliches Ausmaß an Verwundbarkeit einher.
Die PAHO hat eine Vielzahl von Initiativen gestartet, um die Gesundheit der indigenen Bevölkerung zu fördern. Doch da diese beim Zugang zu medizinischer Versorgung generell Barrieren überwinden muss und nun noch eine akute Krise hinzukommt, ist mehr nötig. Es erfordert eine konzentrierte, koordinierte Strategie zwischen Staaten, indigenen Organisationen, den Vereinten Nationen und anderen internationalen Kooperationspartnern. Nur so können die drastischen Folgen von COVID-19 auf das Leben indigener Menschen gemildert werden.
Dieses Interview wurde der Klarheit halber leicht bearbeitet.