Im Mai 2016 öffneten sich auf einer kleinen Insel vor der Küste Griechenlands zum ersten Mal die Türen der Chios Flüchtlingsschule für über 100 Flüchtlingskinder.
Für viele der Kinder, die alle aus ihren Heimatländern flüchten mussten, war dies das erste Mal in ihrem Leben, dass sie eine Schule von innen sahen.
„Die Kinder wachen schon ganz früh morgens auf, weil sie sich so auf die Schule freuen”, erzählt Nicholas Millet, freiwilliger Helfer aus Großbritannien und gleichzeitig einer der Gründer der neuen Schule. „Einmal wach, laufen sie direkt zum Zelt der Lehrer, um zu fragen, ob der Unterricht nicht schon früher anfangen könnte.”
Dass sich die Kinder so sehr auf die Schule freuen, kommt nicht von ungefähr. Sie alle haben in ihren zerrütteten Heimatländern, auf der Flucht und in den Flüchtlingslagern bereits sehr viel durchgemacht. Eine Schule zu besuchen und mit Gleichaltrigen zusammen zu sein ist eine kindgerechte Abwechslung in der sonst harschen Realität.
Im Lager auf Chios leben ca. 1.500 Flüchtlinge. 30-40% von ihnen sind Kinder. Der EU-Türkei Deal, der im März unterzeichnet wurde, sieht vor, dass die Flüchtlinge, die hier ankommen, erst einmal auf der Insel festsitzen, solange ihr Asylantrag läuft. Das Asylverfahren für jeden einzelnen Flüchtling ist allerdings recht langsam und die Zustände in den Lagern trostlos. Im Camp Vial werden die Flüchtlinge sogar mit NATO-Draht (einem rasiermesserscharfen Stacheldrahtzaun) von der Außenwelt - dem Rest Europas - getrennt.
„Unschuldige Kinder werden so eingesperrt, ohne dass sie Zugang zu Bildung, gesunder Ernährung oder vernünftigen Hygienebedingungen hätten”, berichtet ein Mitarbeiter der Freiwilligenorganisation „Chios Eastern Shore Response Team”. Dieses erzwungene Warten lässt viele Flüchtlingsfamilien, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren, bitterlich enttäuscht und verzweifelt zurück.
„Nach dem Abkommen zwischen der Türkei und der EU habe ich viel Zeit mit Familien in Flüchtlingslagern verbracht. Sie haben ihr Heimatland Syrien verlassen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können. Sie haben gehofft, dass ihre Kinder in Europa zur Schule gehen können - wie jedes andere Kind eben. Aber die Realität ist völlig anders”, berichtet Millet.
„Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Ich wollte einen sicheren Ort für Kinder schaffen, einen Ort, zu dem sie kommen können und an dem sie sich wieder wie Kinder fühlen.”
Gemeinsam mit der NGO „be aware and share” (BAAS) hat sich Millet dazu entschlossen, eine Schule für die Kinder im Flüchtlingscamp zu gründen. Erstaunlicherweise brauchten sie dafür gerade einmal nur einen Monat. Jetzt erhalten fast 150 Kinder Unterricht in Englisch, Farsi, Arabisch, Mathe, Naturwissenschaften, Kunst und anderen Fertigkeiten wie Gartenarbeit oder einfache hygienische Regeln.
Und auch wenn die Schule von einem Team aus Freiwilligen gegründet wurde, setzt das Projekt stark auf die Beteiligung der ganzen Flüchtlingsgemeinschaft. Alle Lehrer zum Beispiel sind selbst Flüchtlinge, die vor ihrer Flucht in den Schulen ihrer Heimatländer gearbeitet haben.
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„Die Menschen hier wurden durch den Krieg und die Situation in den Flüchtlingslagern ihrer Würde beraubt. Das Schulprojekt versucht ihnen diese Würde wieder zurückzugeben.”
Bereits ganz einfache Mittel helfen dabei, dass sich für die Kinder wieder ein wenig Normalität in ihrem Leben einstellen kann.
„Wir haben zum Beispiel einen Tisch in unserem Garten”, sagt Millet. „Sie glauben nicht, wie aufgeregt die Kinder waren, als sie endlich wieder gemeinsam um einen Tisch sitzen konnten. Das haben sie schon so lange nicht mehr getan. Aber hier können sie am Tisch sitzen und gemeinsam etwas essen. Hier gibt es keine Ellbogenmentalität und kein Anstehen fürs Essen wie im Camp. Hier können sie relaxen und einfach wieder Kind sein. Ein richtiger Zufluchtsort.”
Zwischen all dem Chaos und der Frustration im Flüchtlingslager, spendet das Projekt Hoffnung und hilft sogar dabei, das angespannte Verhältnis zwischen den Einwohnern von Chios und den Flüchtlingen zu verbessern.
„Wir holen die Kinder morgens aus den verschiedenen Camps ab. Wenn uns jemand auf der Straße entgegenkommt, sagen sie immer ganz freundlich ,Kalimera` - das heißt ,Guten Morgen` auf griechisch. Jetzt kommen jeden Morgen die Ladenbesitzer aus ihren Läden, um die Kinder zu begrüßen.”
65 Jahre ist es her, als damals in Genf die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde. Das Abkommen führte international geltende Gesetze und Verpflichtungen im Umgang mit Flüchtlingen ein. Viele Länder scheinen sich momentan jedoch ihrer Verantwortung entziehen zu wollen. Wie gut, dass es da noch Menschen aus der Bevölkerung gibt, die sich nicht vor der Hilfe sträuben.
Einer davon ist der 25-jährige Mitbegründer der Chios Flüchtlingsschule, Nicholas Millet. Nachdem er im November 2015 ein Wochenende freiwillig im Camp in Calais in Frankreich aushalf (das auch als der 'Dschungel von Calais' Schlagzeilen machte), hat er seinen gut bezahlten Manager-Job in London an den Nagel gehängt. Anfang 2016 reiste er dann nach Griechenland, um sich selbst einen Überblick über die Situation vor Ort zu verschaffen. Und dann blieb er. Vor allem aufgrund der Zustände, die er dort erlebte.
Und mit der Chios Flüchtlingsschule soll sein Engagement noch lange nicht aufhören. Im Gegenteil: „Bis jetzt kann nur die Hälfte der Kinder in den Lagern auf unsere Schule gehen. Wir hoffen daher, dass wir bald noch eine zweite eröffnen können. Denn jedes Kind hat eine Chance auf Bildung verdient. Es ist doch egal, ob man aus Afghanistan, dem Iran, Pakistan oder Syrien stammt - Kind ist Kind.”