Warum das wichtig ist
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Mit allen Mitteln versucht die Regierung in Nigeria, die anhaltenden Proteste gegen die Polizeigewalt zu stoppen: Ausgangssperren, Versprechen und zuletzt mit dem Einsatz von staatlicher Gewalt gegenüber der eigenen Bevölkerung. Doch die vor allem jungen Demonstrant*innen fordern grundlegende Veränderungen und lassen nicht locker. 

Am vergangenen Dienstagabend eskalierte die Situation in der Stadt Lekki erneut: Nigerianische Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer und töteten mehrere Menschen, wie der Spiegel berichtete.

Seit Jahren wird der Unmut in der Bevölkerung über die Gewalt durch die Special-Anti-Robbery-Squad (SARS), eine Abteilung der nigerianischen Polizei, laut und lauter. Zum ersten Mal tauchte der Hashtag #ENDSARS 2017 auf. Mehrere Menschen berichteten in sozialen Netzwerken davon, wie sie von "Sicherheitskräften" der SARS erpresst, belästigt oder entführt wurden. 

Die Einheit war in den frühen 90er Jahren gegründet worden, da Nigeria ein großes Sicherheitsproblem hatte. Doch heute, so das Argument vieler Menschen aus Nigeria, gibt es dieses Sicherheitsproblem nicht mehr. Stattdessen geht Gefahr von der SARS aus: Die Truppe wurde im Laufe der Jahre immer wieder dabei gefilmt, wie sie Menschen schlägt oder auf sie schießt

Menschenrechtsorganisationen beklagen die Brutalität und Korruption der Elite-Einheit SARS seit langem. In den vergangenen dreieinhalb Jahren seien mindestens 82 junge Nigerianer von SARS-Beamten getötet worden, so berichtet Amnesty International. Doch die SARS-Offizieren wurden bisher nicht zur Verantwortung gezogen.

Nach einem Handyvideo, das zeigen soll, wie SARS-Offiziere einen unbewaffneten Mann töten, verlagerten sich die Proteste am 8. Oktober vom Internet auch auf die Straßen nigerianischer Großstädte. Sechs Tage lang setzten sich junge Nigerianer*innen mit friedlichen Protesten, Märschen und Kampagnen gegen die Polizeigewalt ein.

Social Media diente seitdem zwar nicht mehr als alleiniger Austragungsort, gab den Protesten aber dennoch viel Rückenwind: Nach dem Vorfall wurde der Hashtag #EndSARS binnen eines Wochenendes ein internationaler Trend mit Millionen von Tweets. Unter anderem Musiker wie Wizkid und Burna Boy schlossen sich der Bewegung an. 

Vor allem die sogenannten "Yahoo Boys", junge Nigerianer, die ihr Geld in der boomenden IT-Szene in dem westafrikanischen Land verdienen, sind oft Opfer der SARS. Auch der junge Nigerianer auf dem Handyvideo arbeitete in der IT-Branche. 

Für viele Menschen in Nigeria ist die Gewalt der SARS schon lange eine reale Gefahr. “Meine Geschichte mit SARS begann schon vor einer ganzen Weile – im Jahr 2012”, sagt Femi*, Unternehmer im Bereich Design- und Grafik aus Nigerias Metropole Lagos, im Gespräch mit Global Citizen. “Ich fuhr damals einen Toyota Corolla mit hellen LED-Scheinwerfern. Was mir nicht bewusst war: Auf mich traf damit das typische Profil der “Yahoo Boys” zu. Zudem war ich hellhäutig, hatte einen Bart und Piercings [was diese Leute ebenfalls ermutigte, mich als Ziel zu sehen].”

“Fast jede Woche wurde ich angehalten, kontrolliert und zur Polizeiwache gebracht, obwohl sie auf meinem Smartphone keine belastenden Informationen fanden”, sagt Femi. “Das ging eine ganze Weile so. Ich musste jedes Mal einen Onkel anrufen, der einen Bezirkspolizisten kannte, um auf Kaution von der jeweiligen Polizeiwache, entweder in Sabo oder Pedro [in Lagos], freigelassen zu werden.”

Unter dem Hashtag #ENDSARS protestieren Menschen schon seit Jahren

Nigerias Jugend kämpft nicht nur gegen Diskriminierung und das Ende der Polizeibrutalität. Sie kämpft auch für Global Goal Nummer 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen. Denn seit 72 Jahren gibt es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in der universell zu schützende, grundlegende Menschenrechte festgelegt sind. Als Mitglied der Vereinten Nationen (UN) und des Commonwealth ist Nigeria an diese Erklärung gebunden. 

Um die Orte der Proteste, die politischen Forderungen und die Finanzierung zu koordinieren, wird hauptsächlich Twitter genutzt. Die Beteiligten tauschen sich dort aus über die Herstellung von Anti-Tränengas-Spray, über Ressourcen der Bewegung und über mögliche Spenden-Aktionen. Zudem wurde via Social Media eine Website geplant, auf der Opfer von Polizeigewalt ihre Geschichte erzählen können.

Auch in London, Berlin und Washington DC haben Nigerianer*innen Proteste organisiert. Aktivist*innen wie unter anderen Kiki Mordi, Aisha Yesufu, Feyikemi Abudu und Odunayo Eweniyi haben der Bewegung zu finanziellen und logistischen Mitteln verholfen.

#ENDSARS ist inzwischen die größte Jungendbewegung in der Geschichte Nigerias – und das ohne eine Verbindung zu politischen Parteien, Amtsträger*innen oder Organisationen. Die einzige Forderung gegenüber der Regierung: Polizeigewalt in Nigeria zu beenden, indem die SARS-Einheit aufgelöst wird.

Die Regierung verkündete, Polizeigewalt zu beenden – doch es kam nie dazu

Die nigerianische Polizei hat eine lange Geschichte von Korruption, Belästigung und Machtmissbrauch. Deshalb versprach die Regierung Nigerias über Jahre, von Wahlperiode zu Wahlperiode, die Institution zu reformieren. In einem Ranking schnitt die nigerianische Polizei 2016 weltweit am schlechtesten ab. Das National Bureau of Statistics fand in einer Untersuchung der Korruption im Land zudem heraus, dass nigerianische Polizist*innen unter allen Beamten am ehesten Bestechungsgelder eintreiben und erbitten.

In jüngster Zeit wurden die Praktiken der nigerianischen Polizei zunehmend diskriminierend und wirtschaftlich schädlich für ihre Opfer – in einigen Fällen führten sie sogar zum Tod. Offenbar hängt das SARS-Problem mit größeren Schwierigkeiten in der nigerianischen Polizei zusammen.

Junge Nigerianer*innen mit niedrigem Einkommen, die in der Technologie-, Unterhaltungs- oder Dienstleistungsbranche tätig sind, werden häufig angehalten. Gleiches gilt aber auch für Büroangestellte. Auch Frauen und Mitglieder der LGBTQ+-Gemeinschaft werden von SARS-Beamten immer wieder diskriminiert, schikaniert und erpresst. Sogar Tourist*innen haben schon berichtet, dass sie belästigt werden.

“Meine Freunde und ich (fünf Frauen) kamen gerade mit einem Uber von einem Ausflug zurück, als wir angehalten wurden. Es war ein Kontrollpunkt mit fünf Beamten. Der Grund, weshalb wir angehalten wurden, wurde uns nicht genannt. Der erste Polizist sagte, er wolle das Auto, unsere Taschen und uns durchsuchen. Wir ließen ihn das Auto und unsere Taschen durchsuchen, bestanden aber darauf, dass eine Polizistin uns durchsucht”, sagt Mary*, Fitnesstrainerin aus Lagos, gegenüber Global Citizen.

“Wir versuchten, sie zu überzeugen, bestanden darauf, dass sie nicht unsere Körper berühren durften. Ein Polizist ließ nicht locker zu erklären, dass der Generalinspektor befohlen habe, alle zu durchsuchen, die hier vorbeikommen, insbesondere alle ashawos (nigerianische Umgangssprache für Prostituierte). Ein Polizist schlug mich mit seiner Waffe, ohrfeigte mich ins Gesicht, schlug mich immer wieder”, erinnert sie sich.

“Sie drohten, mir eine Waffe in meine Tasche zu stecken und mich ins Gefängnis zu schicken, wenn wir ihnen nicht 10.000 Nair (etwa 22 Euro) zahlen würden, damit sie den Fall vergessen, also bezahlten wir. [Einer] spannte ständig seine Waffe und drohte, mich zu erschießen”, fügt sie hinzu.

Erreicht #ENDSARS sein Ziel, könnte das Leben etlicher Nigerianer*innen verbessern

In einem Land, in dem ohnehin mehr als die Hälfte der Bevölkerung in extremer Armut lebt, schränkt das die Möglichkeiten, sich aus der Armut zu befreien, zusätzlich ein. Auch die Lebensqualität und das Sicherheitsgefühl werden durch die Praktiken der SARS-Einheit beeinträchtigt.

Tatsächlich haben die Regierung und der Generalinspektor der Polizei seit 2015 mehrmals versucht, die SARS-Einheit zu reformieren und reorganisieren. 

Nach den ersten Online-Protesten im Jahr 2017 ordnete die Regierung an, dass die Einheit untersucht und neu organisiert werden müsse. Doch es gab weiterhin Berichte über Folter, Erpressung und Mord. 2018, 2019 und 2020 gab es (nachdem sich die Proteste landesweit verbreitet hatten) weitere Reformen. Keine dieser Bemühungen konnte das Problem bisher lösen.

Die nigerianische Polizei reagierte auf die Proteste in Lagos, Ogun, Oyo, der Hauptstadt Abuja und in anderen Orten mitunverhältnismäßiger Brutalität – womöglich ein Hinweis darauf, dass es ein tiefer liegendes Problem gibt.

Auch bei den #ENDSARS-Protesten kam es zu Polizeigewalt

Am Samstag, dem 10. Oktober 2020, eröffnete die Polizei das Feuer auf friedliche Demonstrant*innen in Ogbomosho, einer Stadt im Bundesstaat Oyo und tötete dabei Jimoh Isiaq, einen jungen Nigerianer. Am nächsten Tag kamen acht weitere Menschen in Ogbomoso zu Tode.

In Abuja setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein, in Abeokuta schossen die Beamten auf die Demonstrant*innen. Auf einem Video ist zu sehen, wie Polizeibeamte unbewaffnete Demonstrant*innen in Lagos verprügelten und einen Menschen erschossen. 
“Niemand hat etwas geworfen oder etwas falsch gemacht. Niemand verhielt sich provokant. Aber die Polizei hat uns immer wieder bedroht”, erklärte Ndi Kato, der am Samstag auf dem Marsch in Abuja war, gegenüber CNN

Am Montag wurde der Demonstrant Ojabodu Ademola von der Polizei verhaftet. Ein Video zeigt, wie er von den Beamten geschlagen wurde. Später am Tag tauchten Berichte auf, dass er auf eine andere Wache verlegt worden sei. Er wurde erst freigelassen, nachdem der Gouverneur des Bundesstaates Lagos und der Sprecher des Repräsentantenhauses (Nigerias Unterhaus) eingegriffen hatten. Nachdem die SARS-Beamten in Lagos das Feuer eröffnet hatten, kam ein weiterer Mann zu Tode, der nicht zu den Demonstrant*innen gehört hatte.

Die Vorfälle geschahen zum Teil, nachdem der Generalinspektor der Polizei am 4. Oktober erklärt hatte, die SARS-Einheit auflösen zu wollen. Die beiden Morde in Lagos geschahen sogar in etwa zu dem Zeitpunkt, als Präsident Buharis via Social Media eine Ansprache zu den #ENDSARS-Protesten veröffentlichte. Das heizte die Aufregung noch weiter an. 

Viele junge Nigerianer*innen sind der Meinung, dass die Regierung in Wahrheit gar keine Absicht hat, die Polizei zu reformieren. Die Polizei habe zu viel Macht, doch es fehle ihr an Integrität, um damit umzugehen. 

Ein weiteres Problem, über das junge Nigerianer*innen besorgt sind: Die kriminellen Taten bleiben ohne Konsequenz. “Warum ist niemand entlassen worden? Warum wurde niemand für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen, die geschehen, während die Regierung das Gegenteil behauptet? Weil auch die Justiz kompromittiert ist”, meint ein junger Demonstrant.

Welche Maßnahmen die Regierung auf die Proteste der Nigerianer*innen ergreifen wird, ist entscheidend für die Entwicklung des Landes. Denn ohne Frieden, körperliche Unversehrtheit und ohne ein stabiles Rechtssystem können weder nachhaltige Entwicklung noch Wohlstand erreicht werden. 

Advocacy

Gerechtigkeit fordern

#ENDSARS: Deswegen organisieren junge Nigerianer*innen via Social Media Proteste gegen Polizeigewalt

Ein Beitrag von Akindare Lewis