Das Gefühl, zwischen zwei Welten zu leben, kennt Anuscheh nur zu gut. Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert, denkt sie an die Gärten ihrer Großmütter, deren Äste schwer voller Pistazien, Orangen und Äpfeln waren. Die eine Oma lebte in Deutschland und wurde oft besucht, die andere im Iran. Als Kind wuchs Anuscheh direkt am Persischen Golf auf, wo ihre Eltern sich ein Leben aufgebaut hatten. Ihre Kindheit war von vielen Familientreffen und Festen geprägt.
Als Linke erhofften sich Anuschehs Eltern, dass sich die Missstände im Land ändern würden. Die Islamische Revolution und die folgende Diktatur zeigten jedoch ein ganz anderes Gesicht und wie so viele andere politisch Verfolgte, die einsehen mussten, dass sich die Situation nicht ändern würde, beschloss Anuschehs Familie, nach Deutschland zu kommen – das Heimatland ihrer Mutter. Mit zwei Koffern sind sie geflohen und für mehrere Jahre teilten sich ihre Mutter, Anuscheh und ihre Geschwister ein Zimmer.
Diese persönlichen Erfahrungen bewegten sie dazu, 2010 für mehrere Monate auf die griechische Insel Lesbos zu reisen und in einer Unterkunft für minderjährige Geflüchtete auszuhelfen. Da der Bedarf so groß war, startete sie anschließend mehrere Projekte zwischen Lesbos und Berlin, mit dem Ziel, unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten eine Perspektive zu geben, sobald sie in Deutschland ankamen. Zusammen mit anderen Engagierten übernahm sie Vormundschaften und sah viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben.
“Ich übernahm vier Jahre lang die Vormundschaft für einen Jungen aus Afghanistan, der als Halbwaise nach Deutschland gekommen war, bis auch seine Mutter von den Taliban ermordet wurde. Trotz, dass ich meine Eltern nicht verloren hatte, konnte ich mich sehr gut in seine Situation hineinversetzen.”
So wurde der Grundstein für Flamingo e.V. gelegt, einem Netzwerk für geflüchtete Frauen und Kinder. Mit dem 2015 gegründeten gemeinnützigen Verein will Anuscheh eine Infrastruktur für engagierte Aktivist*innen bauen, um geflüchtete Frauen und Kinder zu unterstützen.
Geflüchtete Frauen können durch das Projekt Band of Sisters Selbstverteidigungskurse besuchen.
99 Prozent der Frauen haben auf der Flucht sexuelle Gewalt erlebt
Frauen, die Krieg und Gewalt erlebt haben, finden hier einen geschützten Raum, können ihre Geschichten sichtbar machen und sich gleichzeitig Unterstützung holen. Insbesondere für diejenigen, die alleine oder mit ihren Kindern flüchten, ist schon der Weg unglaublich gefährlich. 99 Prozent der Frauen, die von Flamingo e.V. betreut werden, haben während der Flucht sexuelle Gewalt erlebt und wurden von sogenannten Schleppern erpresst.
Es kommt beispielsweise vor, dass sie an irgendeiner Tankstelle herausgelassen werden und denken, sie befinden sich in Schweden oder England, wo Verwandte auf sie gewartet hätten, sind dann aber in einem ganz anderen Land angekommen, wo sie Asyl beantragen müssen.
Sie werden in große Gemeinschaftsunterkünfte gebracht, kennen weder die Sprache noch die Kultur und sind auf sich allein gestellt. Dieser Zustand dauert in den meisten Fällen mehrere Jahre an. Die Kinder wachsen oft in den Unterkünften auf und viele Frauen, die durch die Flucht und Krisen im Heimatland traumatisiert wurden, haben keinen Zugang zu jeglicher Form der Therapie oder psychologischer Betreuung, was sich wiederum stark auf die Gesundheit der Kinder auswirkt.
Flamingo e.V. bietet Frauen einen Ort zum Austausch und entwickelt immer wieder neue Projekte, die über Grenzen der Religion und Herkunft hinausgehen. So ist auch Band of Sisters entstanden, ein Social Entrepreneurship, das Frauen bestärken soll. Herzstück des Projekts ist das nordsyrische Frauendorf Jinwar, das von den ansässigen Frauen wortwörtlich selbst aufgebaut wurde. Im Zentrum befindet sich ein Garten, durch den sie sich selbst versorgen können und rundherum finden Angebote des Female Empowerment statt: Bildungsangebote, medizinisches Know-How, Beratung, Selbstverteidigungskurse, Kurse in weiblicher Anatomie, Heilkräuterkunde, es gibt ein Gesundheitszentrum und vieles mehr. Inspiriert von dieser Idee entstand ein weiterer Heilkräutergarten in Berlin Neukölln.
“Im Heilkräutergarten steht die Zeit still. Niemand wird verurteilt, Vorurteile werden abgebaut und die Heilung von dem, was geschehen ist, steht im Vordergrund”, erklärt Anuscheh. “Die Frauen haben einen Ort, zu dem sie gehen können und dies ist ein erster Schritt, denn oftmals bleiben sie in ihren Unterkünften, weil sie nicht wissen, wo sie willkommen sind. Sie kommen wieder und erfahren von den vielen Angeboten.” Das alles wurde gemeinsam durch die Community aufgebaut – und das ist Anuschehs größter Schatz.
Durch Band of Sisters können geflüchtete Frauen heilen und selbst aktiv werden
Ein weiterer Knackpunkt für geflüchtete Frauen ist es, aus finanziellen Abhängigkeiten herauszukommen und selbstbestimmt leben zu können. Im Garten können sie einfach nur sein und sich mit anderen austauschen.
“Wenn sie möchten können sie im Garten mitarbeiten, Seifen, Heilkräutertees und Balm selber herstellen, ihr selbst mitgebrachtes Wissen aus dem Umgang mit Natur und Garten mit anderen teilen. Zusätzlich wird hier das Unternehmen von Band of Sisters besprochen, um in Zukunft auch Einkommen zu generieren”, erklärt Anuscheh.
Neben Heilkräuterkunde finden Empowerment-Workshops statt und ein selbstorganisiertes Frauenrechtsberatungsteam mit Sprachmittlung und Kinderbetreuung läuft erfolgreich parallel. So sollen die Frauen gezielt bestärkt werden. Denn das ist Flamingos Mission: statt die Frauen lediglich als Opfer wahrzunehmen, will der Verein sie unterstützen, Heilung zu finden und in eine aktive, selbstbestimmte Rolle zu kommen.
Im Heilkräutergarten können die Frauen mithelfen und ihre eigene Expertise einbringen, um selbstwirksam zu handeln.
Dieser Aspekt ist Anuscheh besonders wichtig, denn 70 bis 90 Prozent der Frauen weltweit werden in Altersarmut rutschen. Geflüchtete Frauen sind hierbei noch marginalisierter und enden oft in Rollen, in denen sie unbezahlte Care-Arbeit lesten und ausgebeutet werden. Band of Sisters will das sichtbar machen und Frauen mobilisieren, sich mit Finanzen auseinanderzusetzen.
Anuscheh weiß, welche Auswirkungen Kriege auf die Gesundheit eines Menschen haben kann. Ihre beiden Großmütter haben Kriege miterlebt und durch den Umgang mit der Natur Heilung gefunden. Davon inspiriert möchte Anuscheh ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit anderen teilen.
“Die Inspiration durch diese beiden Frauen [meine Großmütter], das hat mich dazu gebracht, zu sagen, dass ich diese Stärke nutzen und an andere weitergeben will.”
Durch den Citizen Award werden Projekte wie Band of Sisters sichtbarer gemacht
Einige Produkte aus der Manufaktur von Band of Sisters. Die Gewinne gehen direkt an die geflüchteten Frauen.
Der Citizen Award 2022 ist eine große Motivation für die Aktivistin, genau da weiterzumachen: Frauen zu bestärken und Orte aufzubauen, an denen sie heilen können. Durch den Award erhofft sie sich, dass Frauenprojekte wie Band of Sisters noch bekannter und sichtbarer gemacht werden.
“Veränderung findet schon im Kleinen statt. Im Umgang mit den Menschen miteinander. Je mehr Menschen sich darüber bewusst werden, was für Möglichkeiten sie haben, auch im Kleinen die Welt zu verändern, umso größer wird es am Ende für alle.”
Am 22. Mai verleiht Global Citizen den Global Citizen Prize 2022 und ehrt internationale Aktivist*innen für ihr Engagement, extreme Armut weltweit zu beenden. Die Preisverleihung findet in New York statt und wird am 2. Juni unter anderem auf YouTube als Stream zur Verfügung gestellt. Der diesjährige Global Citizen Prize 2022 wird in drei Kategorien verliehen: Schutz unserer Umwelt, Bekämpfung von Armut und der Forderung nach Gleichberechtigung. In jeder Kategorie werden 2-3 Aktivist*innen ausgezeichnet. Die Gewinner*innen erhalten ein einjähriges Unterstützungsprogramm von Global Citizen sowie ein Preisgeld von 10.000 US-Dollar (rund 9.500 Euro) für ihre Organisationen. Zum zweiten Mal verleihen wir im Rahmen des Global Citizen Prize auch einen Preis in Deutschland. Neben Deutschland werden die Awards auch jeweils an Aktivist*innen aus Großbritannien, Mexiko, Nigeria sowie den Regionen Nordamerika, Oceana und Südostafrika verliehen.