Romy Bornscheuer, 22, ist die Mitgründerin der Bewegung #EuropeansForHumanity (EFH). Die transnationale Initiative setzt sich für die Rechte von Geflüchteten ein, sammelt Spenden, initiiert Webinare und organisiert Proteste. Die Studentin selbst lebt in Lettland und pendelt zwischen zwei Welten: Medizinstudium und Flüchtlingscamps.
14.000 Menschen weggesperrt hinter Mauern und Nato-Stacheldrahtzäunen. Toxischer Stress, Polizeigewalt, Willkür, Mangelernährung, kaum Zugang zu psychologischer, sozialer und juristischer Hilfe oder medizinischer Versorgung. Kinder, die nie eine Schule besucht haben, in Zelten schlafen, nachts frieren müssen. Und das mitten in Europa – nämlich auf der griechischen Insel Lesbos.
Das ist die bittere Realität. Doch während die Europäische Union auf den ägäischen Inseln ihr unmenschliches Gesicht zeigt, fehlt in der Berichterstattung über die “Flüchtlingskrise“ ein entscheidender Teil: die unglaubliche Stärke der Menschen, ihre Talente und ihre Träume.
Seit sechs Jahren arbeite ich als Freiwillige mit geflüchteten Menschen aus der ganzen Welt. Fast ein ganzes Jahr habe ich auf der griechischen Insel Lesbos verbracht, Patient*innen an der syrischen Grenze betreut, Lebensmittel in Serbien verteilt, Sprachkurse in Deutschland gegeben und Flüchtlingskinder im Libanon unterrichtet. Derzeit bin ich wieder auf Lesbos und arbeite in einer Klinik im Flüchtlingscamp in Moria. Gleichzeitig gebe ich als Teil der Organisation #EuropeansForHumanity (EFH) Menschen vor Ort eine Plattform, ihre Geschichten von Flucht, Hoffnung, Perspektiven und Perspektivlosigkeit zu erzählen.
Die Rückkehr nach Moria
Seit Juni 2020 bin ich zurück auf der Insel, die ein großes Stück Heimat für mich geworden ist. Seit meinem letzten Aufenthalt ist die Krise in Moria beständiger, fast verlässlicher und größer geworden. Das Camp hat sich seit 2018 in Größe und Population fast verdreifacht.
Wieder hier zu sein, ist für mich nicht selbstverständlich: fünf der Freund*innen, mit denen ich hier nachts Geflüchtete gerettet habe, dürfen die Insel nicht mehr betreten. Sie sind Opfer der zunehmenden Kriminalisierung humanitärer Hilfe geworden. Und so habe ich Tränen in den Augen, als ich die Küstenstraße zwischen der Hauptstadt Mytilene und dem Süden der Insel das erste Mal nach meiner Rückkehr entlangfahre. Erinnerungen an lange harte Nachtschichten, Kälte, verunglückte Menschen, an Land gespülte Überreste von Flüchtlingsbooten. Aber auch an Momente des Glücks, wenn Menschen voller Hoffnung Europa zum ersten Mal betreten und sich lebenslange Freundschaften bilden. Jetzt bin ich zurück an dem Ort, der mich gleichzeitig mit so viel Freude, aber auch Wut erfüllt.
Die Entstehung von #EuropeansForHumanity
Unsere Organisation #EuropeansForHumanity entstand über Nacht: Anfang 2020 als der türkische Präsident Erdogan verkündete, die Grenzen zu öffnen, war meine gute Freundin Magdalena Gartner auf Lesbos. Als Sozialarbeiterin half sie in einem Safe Space für Frauen. Nach nur wenigen Wochen musste sie jedoch die Heimreise antreten. Nicht aus freien Stücken, sondern weil sie, wie viele andere Hilfsarbeiter*innen wurde. Journalist*innen wurden ins Meer gestoßen, Autoscheiben eingeschlagen, Freiwillige brutal angegriffen. Die Lage war völlig außer Kontrolle geraten. Teile der griechischen Regierung unterstützten die rechtsextremen Angriffe und bezeichneten sie als “Selbstverteidigung“ der Griech*innen. Magdalena konnte entkommen, musste aber Tausende zurücklassen, denen das nicht möglich war.
So starteten wir mit EFH eine Petition, Proteste und eine Social-Media Kampagne. Freiwillige aus mehr als 15 Ländern schlossen sich uns an, halfen zu übersetzen und zu berichten. Kurz darauf organisierten wir unsere erste Paneldiskussion – online, denn die Corona-Pandemie hatte Europa erreicht. Später kamen Fundraiser hinzu, Medikamentenspenden für Moria, lange Telefonate mit Politiker*innen aus ganz Europa.
Klare Forderungen an die Politik
Unsere Forderungen sind klar: Die Camps müssen evakuiert werden, die Zustände auf den Inseln sind untragbar. Menschen dürfen niemals zum Spielball von politischen Interessen werden. Asyl ist ein fundamentales Menschenrecht und jede*r hat das Anrecht auf eine faire und humane Überprüfung ihres/seines Asylgesuchs. Zugleich wird humanitäre Hilfe in einem erschreckenden Ausmaß kriminalisiert. Nicht nur die Seenotrettung, sondern selbst das Aushändigen von Trinkwasser an obdachlose Geflüchtete ist mittlerweile illegal. Mitarbeiter*innen von NGOs werden verhaftet und ohne Anklage festgehalten. Deshalb fordert EFH die Entlassung aller Hilfsarbeiter*innen aus Haftanstalten und die sofortige Einstellung der Verfahren gegen sie.
Derzeit berichtet EFH von Lesbos, mit einem Team aus Geflüchteten und humanitären Arbeiter*innen. Was uns besonders wichtig ist: Wir wollen den Menschen auf Augenhöhe begegnen, ihnen Respekt zollen. Denn was in den Schlagzeilen untergeht, sind die Geschichten hinter den Zahlen.
Die Geschichten der Menschen hinter den Zahlen
Ibrahim*, der Laborassistent aus Kabul, der seit einem Jahr ohne Papiere in Moria ist und so gerne helfen würde – gerade in Zeiten von Corona. Die sechsjährige Ouza* aus Syrien, die Model in Paris werden möchte. Sarah*, die ihr Medizinstudium abbrechen musste, weil sie von den Taliban verfolgt wurde und jetzt als Freiwillige in der Frauenklinik hilft. Der Automechaniker Raaed, der Deutsch spricht, weil er in Frankfurt gelebt hat. Weil ihm der Staat den Familiennachzug verweigerte, musste er nach Syrien zurückkehren musste und lebt jetzt Frau und Kindern wieder in Moria.
Dies sind die Menschen hinter den Zahlen, deren Geschichten wir mit der Welt teilen möchten. Wir möchten, dass das Wort Flüchtling ein Wort der Stärke und Widerstandsfähigkeit wird. Wenn Menschen ihr Zuhause, ihre Sicherheit, ihre Angehörigen verloren haben und dennoch nicht aufgeben, sondern alles tun, um sich ein neues Leben in Sicherheit aufzubauen, dann ist das kein Zeichen von Schwäche. Es ist ein Zeichen von Resilienz, menschlicher Größe und Mut.
*Name wurde zum Schutz der Menschen abgeändert.