Dieses Jahr wäre der 36. Geburtstag von Shafilea Ahmed gewesen. Feiern konnte sie ihn allerdings nicht. Denn vor 19 Jahren wurde sie von ihren Eltern bei einem so genannten “Ehrenmord“ getötet. Sie war damals erst 17 Jahre alt.
In Großbritannien findet jedes Jahr am 14. Juli der Nationale Gedenktag für die Opfer von Missbrauch aus Gründen der Ehre statt. An ihm soll Ahmed und den vielen anderen Opfern der sogenannten Ehrenmorde gedacht werden.
HBA, was für Honor Based Abuse (Missbrauch aus Gründen der Ehre) steht, wurde in Großbritannien erstmals nach dem Mord an Banaz Mahmod im Jahr 2007 offiziell anerkannt. Sie wurde von Verwandten getötet, nachdem sie eine missbräuchliche Ehe beendet hatte. In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl der bei der britischen Polizei gemeldeten Fälle von Ehrenmord um 81 Prozent in die Höhe geschnellt. Es wird geschätzt, dass es in Großbritannien jedes Jahr bis zu 15 sogenannte Ehrenmorde gibt.
Einerseits ist der Anstieg zum Teil darauf zurückzuführen, dass HBA nun als Gewalttat eingestuft wird und dass Überlebende die Taten anzeigen. Fachleute gehen jedoch davon aus, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Die tatsächlichen Zahlen sind vermutlich viel höher.
HBA ist ein globales Problem, Ehrenmorde werden weltweit angezeigt – auch in den USA, Schweden, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien.
1999 wurde Samia Sarwar erschossen, weil sie sich von ihrem Cousin scheiden lassen wollte, der sie misshandelt haben soll. Neun Verwandte von Ghazala Khan wurden 2005 in Dänemark verhaftet und verurteilt, weil sie an der Planung ihres Mordes beteiligt waren.
In Belgien machte der Ehrenmord an Sadia Sheikh durch ihren Bruder im Jahr 2007 gleich zweimal Schlagzeilen: zuerst, nachdem sie getötet wurde und ein zweites Mal, als die gesamte Familie dafür verurteilt wurde.
Ahmet Yildiz wurde 2008 in der Türkei ermordet, weil er offen als schwuler Mann lebte. Ein besonders aufsehenerregender Vorfall war die Ermordung der pakistanischen Social Media Berühmtheit Qandeel Baloch. 2016 wurde sie von ihrem Bruder getötet, "weil sie den Namen der Baloch entehrt hatte". Schockierenderweise wurde der Mörder jedoch nach sechs Jahren aufgrund einer juristischen Formalität freigelassen, die es der Mutter des Opfers ermöglicht, das Verbrechen zu begnadigen. Dies sind nur einige der Namen, denen wir im Juli und an jedem Tag im Jahr gedenken.
HBA soll diejenigen bestrafen, die Schande über ihre Familie oder Community gebracht haben, weil sie traditionelle Erwartungen nicht erfüllt haben. Sie kann in Form von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM), emotionalem Missbrauch, körperlicher Misshandlung, Hausarrest, sozialer Ächtung und Zwangsheirat erfolgen.
Im Folgenden erfährst du alles, was du wissen solltest, um dich mit dem Thema auszukennen.
1. Missbrauch aus Gründen der Ehre ist nicht ehrenhaft
Es gibt keine ehrenhafte Grundlage für Gewalt jeglicher Art, schon gar nicht für systematische Gewalt im Namen der “Ehre“. “Ich möchte nicht einmal den Begriff 'Ehrenmord' verwenden: Es gibt nicht den geringsten Hauch von Ehre, wenn man eine Frau aus diesen Gründen tötet", sagte die ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay.
Barrister Charlotte Proudman und Dexter Dias QC schrieben: "Der Begriff 'Ehrenmord' verleiht nicht nur dem Täter zu viel Macht, er ist auch beleidigend für Überlebende. Stattdessen müssen wir das Verbrechen mit den Augen der Angegriffenen sehen. Diese geschlechtsspezifischen Gewalttaten greifen etwas an, das mehr ist als der Körper einer Frau, etwas Prekäres und Kostbares: den Kampf tausender mutiger junger Frauen auf der ganzen Welt gegen das unterdrückende Patriarchat und die lähmenden gesellschaftlichen Konventionen."
Der Begriff HBA jedoch hat einen Zweck: Er wird verwendet, um das Ausmaß der Gewalt zu ermitteln und zu messen, damit ein strategischer und zielführender Ansatz zu ihrer Bekämpfung entwickelt werden kann.
2. Es handelt sich um eine Form von geschlechtsbezogener Gewalt
HBA ist eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt (GBV). Die meisten Betroffenen sind Frauen und Mädchen, aber auch Männer und Jungen sowie nicht binäre Menschen können betroffen sein.
GBV – vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR als “schädliche Handlungen, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts richten“ definiert – betrifft schätzungsweise jede dritte Frau weltweit. Verlässliche Daten über GBV sind jedoch, wie auch bei HBA, immer noch nicht verfügbar. Denn die Aufzeichnungen enthalten nur Vorfälle, die gemeldet werden. Das tatsächliche Ausmaß wird deshalb oft massiv unterschätzt.
3. Communities of Color sind besonders gefährdet
BIPOC-Menschen sind aufgrund einer Reihe komplexer Faktoren besonders anfällig für HBA, etwa aufgrund der weit verbreiteten Konzepte der Familienehre.
Die iranische und kurdische Frauenrechtsorganisation IKWRO hat erklärt, dass HBA aus der Konzentration männlicher Dominanz entstehe. Es komme zur HBA, wenn die Unabhängigkeit der jüngeren Generation mit der konservativen Kultur der Älteren kollidiert und letztere ihre Ansichten durchsetzen.
Am stärksten ist HBA in Communities in Südasien, im Nahen Osten sowie in Nord- und Ostafrika verbreitet. Betroffene und Überlebende, die sich an die Wohltätigkeitsorganisation Karma Nirvana wenden, sind Muslim*innen, Sikhs, Hindus, orthodoxe Jud*innen und gelegentlich auch Reisende.
Schwarze und südasiatische Feminist*innen haben davor gewarnt, HBA als ein religiöses oder kulturelles Problem darzustellen. Denn das birgt die Gefahr von Othering sowie rassistischen Zuschreibungen und Stereotypen.
Studien aus Großbritannien und Schweden zeigen, dass Sozialdienste und die Strafjustiz aber genau das tun, sie bezeichnen die Morde oft als "kulturelle Traditionen“, nicht als extreme Formen der Gewalt gegen Frauen. Dies sowie ein allgemeines Missverständnis über den geschlechtsspezifischen Aspekt der Verbrechen führen zu einem unzureichenden rechtlichen und sozialen Schutz für bedrohte Mädchen und Frauen.
Als beispielsweise Aasiya Zubair in Buffalo, New York, von ihrem Ehemann ermordet wurde, zogen einige Journalist*innen sofort den falschen Schluss, dass es sich um einen Ehrenmord handelte. Seitdem kämpft die muslimische Gemeinschaft in der Umgebung gegen den Irrglauben an, dass derartige Gewalt vom Islam gebilligt wird. Wie der ehemalige pakistanische Premierminister Nawaz Sharif sagte: “Die Ermordung eines Menschen im Namen der Ehre ist nicht nur unislamisch, sondern auch unmenschlich.”
Verständnis und fachliche Unterstützung sind erforderlich, um das Problem in marginalisierten Communities anzugehen, in denen HBA besonders häufig vorkommt.
4. Mindestens 5.000 Frauen und Mädchen weltweit werden jedes Jahr bei "Ehren"-Morden getötet
Die UNO schätzt, dass jedes Jahr weltweit mindestens 5.000 Frauen und Mädchen durch Ehrenmorde sterben.
Organisationen und Anwält*innen, die in diesem Bereich tätig sind, befürchten jedoch, dass die Zahl unterschätzt wird und mindestens viermal so hoch ist.
Mord ist die extremste Form von HBA und macht daher nur einen geringen Prozentsatz der Gesamtfälle aus.
5. Es ist oft ein unsichtbares Problem
Daten wie die Kriminalitätsstatistik erfassen nur Vorfälle, die gemeldet werden. Das tatsächliche Ausmaß des Problems wird deshalb massiv unterschätzt.
Doch warum? Weil HBA oft nicht gemeldet wird – aus Angst vor Gegenschlägen, Konsequenzen, aus Scham und Gefühlen der Ehrverletzung innerhalb der Familie.
6. Es ist ein globales Problem
Es gibt zwar Teile des Nahen Ostens sowie Südasiens, die als "Ehrenmord-Hotspots" gelten, aber HBA ist keineswegs auf diese Regionen beschränkt.
Es gibt keinen einzigen ethnischen, kulturellen oder religiösen Indikator für Gewalt aus Gründen der Ehre, berichtet das Honor Based Violence Awareness Network (HBVA), eine digitale Initiative, die HBA untersucht.
7. Es bleibt oft ungestraft
Ein Grund für das Fortbestehen von HBA ist, dass die Täter*innen selten bestraft werden.
Im Jahr 2014 stellte die Menschenrechtsorganisation International Humanist and Ethical Union (IHEU) fest, dass Verbrechen im Zusammenhang mit der Ehre in vielen Ländern nur selten Ermittlungen nach sich ziehen und die Gesetze dagegen kaum durchgesetzt werden.
Die Reaktionen sind von Land zu Land unterschiedlich, aber mancherorts werden Verbrechen, die als durch die Ehre gerechtfertigt gelten, als mindere Straftaten betrachtet. Im Irak, in Syrien und Jordanien werden "Ehren"-Verbrechen mit geringeren Strafen geahndet. Darüber hinaus fördern informelle Gerichte in einigen Teilen des Nahen Ostens und Südasiens sogar "Ehren"-Morde.
In einigen Ländern werden Frauen, die als gefährdet gelten, von einem "Ehren"-Mord betroffen zu sein, gelegentlich "zu ihrem Schutz" inhaftiert und es kann vorkommen, dass sie lebenslänglich bekommen, ohne dass sie selbst eine Straftat begangen haben, nur allein wegen der potenziellen Verbrechen gegen sie.