Wer sich im Zuge der weltweiten “Black Lives Matter”-Bewegung mit dem Thema Rassismus beschäftigt hat, hat vermutlich festgestellt: Rassismus hat wenig mit Absicht und viel mit Wirkung zu tun. Außerdem findet sich Rassismus nicht immer in bewusster Diskriminierung, sondern oft auch in kleinen Verhaltensweisen, die man nicht hinterfragt.
Ein Beispiel: kulturelle Aneignung. Der Begriff an sich wurde erstmals in den 1980er Jahren in der Kritik des Postkolonialismus verwendet. Kulturelle Aneignung, auf Englisch auch ‘Cultural Appropriation’ genannt, bedeutet, dass Menschen aus privilegierten Gesellschaften kulturell bedingte Kleidungsstücke, religiöse Accessoires oder andere Traditionen von benachteiligten Gruppen aus modischen Gründen übernehmen – den kulturellen Wert aber außer Acht lassen und womöglich dadurch profitieren.
Abgesehen davon, dass ‘Cultural Appropriation’ von Angehörigen der Gruppe schlicht als respektlos empfunden werden kann, kann sie auch dazu führen, dass Traditionen verloren gehen oder verfälscht werden. Zudem werden die Produkte aufgrund entsprechender Modetrends kommerzialisiert und zunehmend unter schlechten Arbeitsbedingungen günstig produziert. Das Einkommen der Kulturen, die originale Produkte herstellen und verkaufen, leidet darunter.
Beispiele für kulturelle Aneignung: Von Braids bis Boho
Bindis
Bindis sind Punkte, die meist in rot und zwischen den Augenbrauen getragen werden. Besonders auf Festivals ist der Gesichtsschmuck beliebt. Doch selten ist den Träger*innen bewusst, was Bindis symbolisieren. Sie haben sogar verschiedene Bedeutungen: In Indien werden sie von Frauen diverser Religionen und Kulturen getragen. Manche verbinden sie mit Weisheit, manche mit Ehe, andere glauben daran, dass ein Bindi im Gesicht eines Babys Böses fern hält.
Federschmuck oder Dashikis
Ob als Kostüm oder aus modischen Gründen: Accessoires und Kleidungsstücke, die mit indigenen Kulturen zusammenhängen, sind ein Beispiel für kulturelle Aneignung. Denn auch hier spielt selten die Geschichte oder Bedeutung eine Rolle. Das Kleidungsstück Dashiki beispielsweise ist ein Symbol für die Hürden und Probleme, denen afroamerikanische Menschen in den USA historisch gesehen begegnet sind und noch immer begegnen.
Blackfacing
Blackfacing bedeutet, weiße Haut für ein Kostüm dunkler zu färben, etwa mit Karnevalsschminke. Schwarze Menschen werden aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert – im Alltag, aber auch durch bestehende Strukturen wie etwa im Arbeitsmarkt. Sie können diese jedoch nicht abends wieder abschminken. Blackfacing verharmlost diese Problematik. Ähnliches gilt für Afro-Perücken.
Dreadlocks, Braids, Cornrows
Ähnlich problematisch ist das Tragen von Braids oder Dreadlocks aus modischen Gründen – wobei der Begriff Dreadlocks negativ behaftet ist. Weiße haben der Frisur den Namen gegeben und “dread“ bedeutet auf deutsch “Furcht“. Die Frisuren sind Gegenstand von Diskriminierung und Rassismus. “Tragen wir Schwarzen einen Afrolook oder Dreadlocks, dann gilt die Frisur als ungepflegt. Sobald aber Stars wie Kim Kardashian Cornrows tragen, ist es ein Riesentrend“, fasste die Präsidentin der SP-MigrantInnen Zürich Yvonne Apiyo Brändle-Amolo zusammen. Zudem ist vielen die Geschichte hinter den Frisuren unbekannt: Die Cornrows, also die am Kopf entlang geflochtenen Zöpfe, stellten Landkarten dar, die Sklav*innen bei der Flucht aus den Plantagen half.
Boho-Stil
Boho kommt von Bohéme und “bezieht sich auf ein Pariser Viertel, in dem viele Sinti und Roma lebten, die aus der Region Böhmen stammten”, erklärte Modetheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Catharina Rüß im Interview mit Bento. Künstler*innen, die sich dort im 19. Jahrhundert angesiedelt haben, haben sich laut Rüß vom Stil der Sinti*zze und Roma*nja inspirieren lassen. “Diesen Look griffen später die Künstler des Expressionismus auf und irgendwann übertrug es sich in die Popkultur.”
Goldschmuck
Miley Cyrus erhielt einen Shitstorm, weil sie sich mit viel Goldschmuck fotografieren ließ. Black Communities warfen ihr vor: Sie habe sich als Weiße den sogenannten “Bling“-Schmuck angeeignet, der mit der afroamerikanischen Hip-Hop-Szene zusammenhängt, und profitiere nun dadurch.
Kulturelle Aneignung: Wie sollten wir damit umgehen?
Warum das ein Problem ist, erklärt der Soziologie Jens Kastner in einem Essay: “Weiße – oder allgemeiner: Angehörige der sogenannten Dominanzkultur – haben sich kulturelle Ausdrucksformen angeeignet und davon profitiert. Allerdings mussten sie dabei nicht die Geschichte von Sklaverei und sogenannter Rassentrennung durchleben.“
Doch wo liegt die Grenze der kulturellen Aneignung? Autorin und Journalistin Fabienne Sand, die sich unter anderem auf Instagram gegen Rassismus einsetzt, empfiehlt in einem Welt-Artikel, bei Unsicherheit einfach mit den Anhängern der jeweiligen Kulturen und Communities zu sprechen. “Viel weniger als um ein Generalverbot und das Unterbinden von kulturellen Austausch geht es um die tatsächliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen”, erklärt sie.
Tatsächlich unterscheiden einige sogar in “Cultural Appropriation“ (kultureller Aneignung) und “Cultural Appreciation“ (kultureller Anerkennung). Ersteres bedeutet, so erklärt es das Enorm-Magazin, die Geschichte hinter den Stilen und Accessoires zu ignorieren, Profit daraus zu schlagen, sie eigennützig zu behandeln und für sich zu beanspruchen. Kulturelle Anerkennung hingegen bedeutet, sich mit einer Kultur zu beschäftigen, sich darüber zu informieren, sie zu beachten – und auf dieser Basis zu entscheiden.