Während Menschen in ganz Europa angesichts des Coronavirus bereits eine unbegründete Lebensmittelknappheit fürchten und mit Panikkäufen ganze Supermarktregale leeren, befinden sich Menschen auf der Flucht an der türkisch-griechischen Grenze tatsächlich in einer lebensbedrohlichen Situation.
Denn seitdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Ende Februar die türkische Grenze zur EU geöffnet hat, liefern sich Griechenland und die Türkei ein Gefecht aus Tränengas und Wasserwerfern. Zwischen ihnen: Tausende Menschen in Not, darunter schutzlose Kinder, die wegen Krieg und Korruption aus ihrer Heimat fliehen mussten.
Inzwischen sind mehr als 3000 Menschen am türkisch-griechischen Grenzübergang #Kastanies. Dort sind sie von Europa mit Tränengas begrüßt worden. Sie sitzen dort fest, können keine Asylanträge in Griechenland stellen und haben keine Versorgung. #evrospic.twitter.com/w6Y7YKjYGV
— Erik Marquardt (@ErikMarquardt) February 29, 2020
2015 soll Geschichte bleiben
Nun blickt die Welt auf die EU – insbesondere auf Angela Merkel und die Bundesrepublik. Vor einem Treffen Erdogans mit den EU-Spitzen in Brüssel kündigte die Bundeskanzlerin an, "das EU-Türkei-Abkommen in eine neue Stufe” überführen zu wollen. Demnach müsse Flucht und Migration geordnet, besser gesteuert und zudem reduziert werden, so Merkel weiter. Entscheidend sei es, aus den Fehlern von 2015 zu lernen. "2020 ist nicht 2015”, betonte die Bundeskanzlerin und sagte Griechenland ihre Unterstützung zu.
Nach der großen Fluchtbewegung von 2015 und dem seitdem ikonisch gewordenen Leitspruch Merkels “Wir schaffen das” hatte die CDU/CSU große Wahlverluste verzeichnet. Als Konsequenz gestand Merkel Fehler in der Flüchtlingspolitik ein, lehnte eine Korrektur im Sinne eines Aufnahmestopps für Geflüchtete jedoch ab.
Politik auf dem Rücken von Menschen in Not
Das Vorgehen Erdogans, die Grenze zur EU eigenmächtig zu öffnen, sei inakzeptabel, so Merkel auf dem Deutsch-Griechischen Wirtschaftsforum in Berlin. Er trage die Verantwortung dafür, dass hilfsbedürftige Menschen an der türkisch-griechischen Grenze nun "in einer Sackgasse stranden", so Merkel weiter.
Mit diesem Vorgehen will Erdogan vor allem Druck auf die EU ausüben. Im Zuge des Syrienkriegs hat die Türkei über 3,6 Millionen syrische Geflüchtete aufgenommen. Mit dem 2016 zwischen der EU und der Türkei verabschiedeten Flüchtlingsabkommen verpflichtete sich die Türkei, alle neu hinzukommenden Flüchtlinge von den griechischen Ägäis-Inseln aufzunehmen und Schlepperbanden zu bekämpfen. Im Gegenzug versprach die EU der Türkei Hilfen in Milliardenhöhe, eine Beschleunigung von Visaverfahren und die Modernisierung der Zollunion.
Merkel wehrte die Grenzöffnung Erdogans und das damit einhergehende Vorgehen, "eigene Probleme auf dem Rücken von Flüchtlingen zu lösen", entschieden ab.
Die Situation auf Lesbos eskaliert
Während Griechenland die südöstlichste Grenze der EU nun auch mit Gewalt dicht halten möchte, spitzt sich die Flüchtlingskrise auf der griechischen Insel Lesbos zu. Hier kam es Ende Februar zu Übergriffen von Rechtsradikalen gegen Geflüchtete und freiwillige Helfer*innen. Berichten zufolge waren mehrere Rechtsradikale auf die Insel gereist, um Geflüchtete von der Ankunft abzuhalten. Sie bauten Straßensperren auf, hielten Autos an und attackierten Flüchtlingshelfer*innen. Bedrohte Hilfsorganisationen meldeten, dass der griechische Polizeinotruf nicht auf ihre Hilferufe reagiert hätte. Seitdem sahen sich einige Helfer*innen aus Sicherheitsgründen gezwungen, die Insel zu verlassen.
Ob die Ankündigung Merkels, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei nun zu erweitern, tatsächlich zur Deeskalation beiträgt, bleibt abzuwarten. Viel Zeit bleibt den politischen Fronten bei der Verhandlung nicht. Denn mit jedem weiteren Tag, der vergeht, leiden mehr Menschen unter den menschenunwürdigen Zuständen, während die EU und die Weltgemeinschaft mit jedem weiteren Tag gegen Menschenrechte verstößt – wie dem internationalen Recht auf Asyl.