Dr. Leyla Hussein ist Psychotherapeutin und darauf spezialisiert, Überlebenden von weiblicher Genitalverstümmelung zu helfen. Zudem ist sie Gründerin des Dahlia Projekts, das erste auf weibliche Genitalverstümmelung spezialisierte Therapieangebot in Großbritannien.
Hussein hält ein nicht-körperliches Screening durch medizinische Personal für weibliche Genitalverstümmelung verpflichtend.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text enthält Passagen, in denen es um körperliche Gewalt geht.
Stell dir vor, wie es war, als siebenjähriges Kind irgendwo draußen gespielt zu haben. Stell dir vor, jemand hätte damals nach deiner Hand gegriffen und dich mitgenommen. Stell dir vor, die Menschen, denen du am meisten vertraust, spreizen dir die Beine und du spürst bereits die Gewalt, bevor sie dich beschnitten haben.
Dann spürst du eine scharfe Klinge an den Genitalien und sie entfernt deine Schamlippen und Klitoris. Sie nähen dir die Vagina zu und hinterlassen ein kleines Loch, durch das du irgendwann menstruieren, Geschlechtsverkehr haben und irgendwann auch gebären wirst.
Diese Geschichte ist in etwa meine Geschichte. Als ich sieben Jahre alt war, wurden ich einer weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) nach Typ 2 unterzogen.
Jahrelang fragte niemand nach meiner Erfahrung. Niemand sprach mit mir über das, was passiert ist. Irgendwann kam der Tag, an dem eine Krankenschwester mich nach einer postnatalen Standarduntersuchung zum ersten Mal danach fragte.
Meine Schwangerschaft war kompliziert, bei vaginalen Untersuchungen hatte ich immer wieder Blackouts.
Nie hatte ich darüber nachgedacht, dass es eine Verbindung zwischen den Blackouts und meiner Beschneidung geben könnte. Bis die Krankenschwester fragte: ”Ich weiß, dass Sie aus Somalia kommen. Darf ich Sie fragen, ob sie weibliche Genitalverstümmelung erlebt haben?“
Ich antwortete: “Ja, bei mir war es nicht so schlimm und generell ist FGM total in Ordnung.” Zu diesem Zeitpunkt hielt ich mein einen Monat altes Baby im Arm.
Während meiner gesamten Schwangerschaft hat mich niemand auf dieses Thema angesprochen. Seit ich zwölf Jahre alt war, hatte ich in Großbritannien gelebt – erst über zehn Jahre später wurde ich zum ersten Mal gefragt, ob ich FGM erfahren hatte. Meine Hebamme hatte mich genauso wenig gefragt wie mein Frauenarzt, obwohl beide die Narben in meinem Intimbereich gesehen hatten.
Erst als die Krankenschwester mich darauf ansprach, wurde mir klar, dass die Blackouts eigentlich Flashbacks waren, als Teil einer Traumafolgestörung waren.
Die Krankenschwester hat mir beigebracht, wie mein Körper funktioniert. Sie hat mir erklärt, welche Gesetze Kinder schützen, das gleiche durchmachen zu müssen wie ich und ich werde ihr für immer dankbar sein. Deshalb habe ich dafür eingestanden, dass meine Tochter nicht beschnitten wird und deshalb bin ich heute eine Aktivistin. Denn ich habe verstanden, dass viele junge Frauen in der gleichen Situation sind wie ich es damals war.
Das Dahlia Projekt habe ich gegründet und weil ich als Psychotherapeutin Frauen helfen möchte. Dass Dhalia Projekt bietet Frauen, die FGM erfahren mussten, einen “Safe space” und psychotherapeutische Hilfe.
FGM ist eine der schlimmsten Formen von Kindesmissbrauch. Sie findet nicht hinter verschlossenen Türen statt und findet ihren Ursprung in patriarchalen und misogynen Strukturen, in denen Mädchen und Frauen das Recht auf die Selbstbestimmung ihrer Körper und ihrer Sexualität genommen werden soll.
Wenn Du eine Siebenjährige auf einen Tisch drückst und ihre Genitalien anfasst, wirst du in Großbritannien verhaftet und wegen sexuellem Missbrauch angeklagt.
Mitarbeiter*innen von UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation schätzen, dass über 200 Millionen Frauen und Mädchen weibliche Genitalverstümmelung erleben mussten. Alle 11 Sekunden kommt ein weiteres Mädchen dazu. Während Du diesen Artikel liest, werden Mädchen auf der ganzen Welt gewaltsam verstümmelt.
Den Überlebenden fehlt es an Möglichkeiten, offen darüber zu sprechen und sich mit ihren Traumata auseinanderzusetzen. Was spricht dagegen, dass in verpflichtenden Screenings nach FGM gefragt wird?
Kürzlich wurde ein Artikel im Telegraph veröffentlicht, in dem Mitarbeiter*innen des Royal College of General Practitioners (RCGP) behaupten, verpflichtende Screenings würden nicht dabei helfen, weiblicher Genitalverstümmelung ein Ende zu setzen.
Meine eigene Geschichte beweist das Gegenteil. Dank der Krankenschwester und ihren Fragen begann ich selbst Fragen zu stellen. Was wurde mir angetan?
Bedenken gegenüber verpflichtenden Screenings kann ich schon verstehen, aber wenn sie sensibel durchgeführt werden und keine körperlichen Untersuchungen beinhalten, können sie ein Rettungsanker für Überlebende sein und helfen, Traumata zu bearbeiten.
Der Artikel bezieht sich auf das Manifest von Action:FGM, einem Zusammenschluss von Organisationen und Überlebenden, die sich dafür einsetzen, dass weibliche Genitalverstümmelung bis 2030 Geschichte ist. Darin steht deutlich, dass Screenings auf keinen Fall körperlich sein dürfe und Mitarbeiter*innen ein spezielles Training absolvieren sollten, damit sie angemessen ausgebildet sind und Überlebenden richtig helfen können.
Als Überlebende und Aktivistin kann ich sagen: Prävention hat oberste Priorität. Wir dürfen Mädchen nicht weiterhin im Stich lassen, weil wir glauben, dass wir aufgrund bestimmter Privilegien “kulturell unsensibel“ oder rassistisch wären.
Ich behaupte, es ist rassistisch Frauen wie mich und Mädchen wie meiner Tochter nicht genauso zu beschützen, wie weiße Menschen.
Ich habe Angst davor, dass unser Land erst handelt, wenn ein Mädchen stirbt. Wollen wir das nicht verhindern, indem wir einfach die Frage stellen, ein Bewusstsein für das Thema schaffen und Handlungsoptionen aufzeigen, so wie es bei mir geschehen ist? Nur weil mich die Krankenschwester nach meiner Beschneidung gefragt hat, ist meine Tochter heute nicht verstümmelt.