Als ich acht Jahre alt war, sind meine Familie und ich aus dem Iran nach Deutschland geflohen.
Als Teenagerin wollte ich mit Freund*innen in meine Heimat reisen. Mein Vater versuchte, dies mit allen Mitteln zu verhindern. Ich war in dieser Zeit in Deutschland in der linken Szene unterwegs, ging auf Punkkonzerte, war politisiert und vor allem eins – Feministin.
Dies waren meine Privilegien, weil ich statt im Iran in Deutschland aufgewachsen bin.
Ich bin in Bandar Abbas geboren, laut iranischem Gesetz also Iranerin und Muslimin. Die Sorge meines Vaters war, dass ich auf der Straße von der Moralpolizei aufgegriffen und mit zur Sittenwache genommen werde – zum Beispiel wegen Haarsträhnen, die aus dem Kopftuch raus schauten. Die Sittenpolizei ist eine islamische Religionspolizei, die geschaffen wurde, um Menschen festzunehmen, die sich nicht an die Kleidervorschriften halten. Eine Machtdemonstration, die ich bereits als Kind im Iran erleben musste. In diesem Fall trug ich kein Kopftuch und wurde als 7-Jährige von der Sittenpolizei mit Maschinengewehren aufgehalten, bis ich mich der Kleiderordnung anpasste.
Unterdrückung und Unterwerfung als Realität im Alltag
Diese Kontrollmaßnahmen, die gezielt der Demütigung der Frauen gelten, geschehen seit Jahren und Tausende von im Iran lebende Frauen und Mädchen sind davon betroffen. Sie werden zu Gefängnissen oder Polizeistationen gebracht und dort barbarischen “Erziehungsmaßnahmen” unterzogen. Auspeitschen ist sehr beliebt.
Die meisten jungen Frauen kennen keine andere Realität als Unterdrückung und Unterwerfung. Obwohl über 70 Prozent von ihnen studieren oder einen Universitätsabschluss haben, bleiben viele von ihnen zu Hause, da sie keine Arbeit finden. Diese Perspektivlosigkeit kommt zu den staatlichen Demütigungen im Alltag und der Unterdrückung im Ganzen noch hinzu. Sie werden durch das islamistische-patriarchale System mit der Scharia als Gesetzesform als Eigentum behandelt, dürfen kein eigenständiges Leben führen.
Die Horrorvorstellung meines Vaters wurde zur Wirklichkeit
Am 13.09.2022 ist die Horrorvorstellung meines Vaters tragische Wirklichkeit geworden: Die 22-jährige Jina Mahsa Amini wurde von der Sittenpolizei verhaftet, da sie ihr Kopftuch “falsch” trug und zu Tode geprügelt. Es war ein staatlicher Femizid. Es ist ganz wichtig, ihn auch als solchen zu benennen, denn diese Verletzung der Menschenrechte ist leider keine Seltenheit im Iran. Und Frauenrechte sind Menschenrechte! Leider wird das überall auf der Welt immer noch nicht verstanden.
Dennoch gehen seit Jahren deutsche Politikerinnen, die sonst keinen Hijab tragen, mit Kopftuch auf Veranstaltungen vom iranischen Präsidenten. Er ist Gast der UN. Der Präsident des faschistisch geführten Landes, in dem ich aufwuchs, wird von der westlichen Welt eingeladen, während ich gleichzeitig durch meine Arbeit mit geflüchteten Frauen* und Kindern mitbekommen muss, wie Asylanträge für Iraner*innen abgelehnt werden.
Es werden Hände geschüttelt. Im Iran werden Hände abgehackt. Als Strafe für kriminelles Verhalten.
Öffentliche Hinrichtungen von LGBTQIA+ Aktivist*innen
Vor einigen Jahren war es noch üblich, Hinrichtungen öffentlich am Kran zu vollziehen.
2005 wurden zwei jugendliche Homosexuelle in Mashad an solch einem erhängt. Im Iran sitzen derzeit zwei LGBTQIA+ Aktivist*innen im Gefängnis, die hingerichtet werden sollen: Zahra Sedighi-Hamedani und Elham Chubdar. Sie haben sich für die Rechte sexueller Minderheiten eingesetzt und müssen dafür nun mit ihrem Leben büßen.
Minderheiten werden gezielt diskriminiert: Afghanische Kinder dürfen im Iran keine Schule besuchen und Kurd*innen leben ein Leben in “zweiter Reihe“. Jina Mahsa Amini war Kurdin. Es ist ebenfalls wichtig, das zu benennen und sie mit dem Namen Jina zu rufen, genau wie es ihre Mutter bei ihrem Begräbnis getan hat. Kurd*innen werden in so vielen Teilen der Welt von kolonialen Systemen unterdrückt. Sie dürfen ihre Sprache nicht in der Öffentlichkeit sprechen, ihre Namen werden nicht akzeptiert.
Von der kurdischen Frauen-Befreiungsbewegung kommt der Dreisatz “Jin Jiyan Azadî”, was auf Deutsch “Frauen, Leben und Freiheit” bedeutet. Seit Jahren kämpfen sie in der Region Rojava, einer kurdischen Autonomieregion im Norden Syriens, gegen den Daesch (IS) und für die Freiheit der Frau. Hier leben Menschen verschiedener Ethnien und Glaubensrichtungen friedlich miteinander, doch auch da wurden und werden sie im Stich gelassen.
Anuscheh Amir-Khalili beim Global Citizen festival 2022 in New York.
Jin Jiyan Azadi wird weltweit gerufen
Doch nun scheint das, was sie säen, endlich Früchte zu tragen. Die Frauen können ganz nach ihrem Vorbild zum Gegenangriff übergehen. Und das tun sie. Sie gehen auf die Straßen, protestieren gegen die systematische Unterdrückung der Frauen und das islamistische Herrschaftssystem. Frauen verbrennen ihre Kopftücher, schneiden ihre Haare ab. Auch in anderen Teilen der Welt demonstrieren die Menschen, um ihre Solidarität zu zeigen. Denn genau das ist jetzt wichtig. Die Proteste müssen als Verteidigung gelesen werden, Verteidigung muss als Leben gelesen werden. Das ist meine Hoffnung. Das sind die Früchte der kurdischen Kämpfer*innen.
Inzwischen wird "Jin Jiyan Azadî" nicht nur auf den Straßen im Iran gerufen, sondern weltweit.
Ich liebe diesen Dreisatz, er bedeutet alles.
Frauen. Leben. Freiheit.