Es gibt eine Menge ungenauer und falscher Informationen über Armut und Menschen, die sie erleben. Wahrscheinlich hast du einige davon schon gehört – zum Beispiel das Vorurteil, dass Armut die Schuld der Einzelnen ist oder dass es nicht möglich ist, extreme Armut zu beenden.
Doch Armut ist ein gesellschaftliches Problem, von dem Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind. Zudem ist es ein vielschichtiges und komplexes Problem, bei dem die individuellen Armutserfahrungen von Mensch zu Mensch variieren.
Im Kern geht es bei Armut um viel mehr als nur um Geldmangel. Armut bedeutet auch Ausgrenzung aus der Gesellschaft, Diskriminierung und mangelnder beziehungsweise kein Zugang zu den Ressourcen, die die Menschen benötigen, um gesund zu bleiben.
Die Weltbank drückt es folgendermaßen aus: “Armut hat viele Gesichter, sie ändert sich von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit und sie wird auf viele Arten definiert. Meistens ist Armut eine Situation, der die Menschen entkommen wollen. Armut ist also ein Aufruf zum Handeln – für Arme und Reiche gleichermaßen. Armut ist ein Aufruf, die Welt zu verändern, damit mehr Menschen genug zu essen, eine angemessene Unterkunft, Zugang zu Bildung und Gesundheit, Schutz vor Gewalt und ein Mitspracherecht bei den Geschehnissen in ihrer Umgebung haben.”
Fehlinformationen über Armut sind systematisch und gehen weit über falsch informierte Einzelpersonen hinaus. Sie können schnell zu falschen Überzeugungen und Meinungen über Armut führen. Und das kann die Handlungen von Entscheidungsträger*innen beeinflussen, die die Fähigkeit und die Ressourcen haben, extreme Armut zu lindern und ihr ein Ende zu setzen.
Hier kommen einige gängige Mythen und falsche Vorstellungen über Armut, über diejenigen, die sie erleben und ihre Realität.
1. Arme Länder sind dazu verdammt, arm zu bleiben
Die Vorstellung, dass einkommensschwache Länder in einem Kreislauf der Armut gefangen sind, aus dem es kein Entrinnen gibt, ist weltweit verbreitet, vor allem aber in westlichen Ländern. Die Annahme, dass ärmere Länder niemals Fortschritte machen werden, wird durch grundlegende Daten widerlegt. Länder wie Mexiko, die Türkei und Chile, die laut dem “Borgen Project” einst als “unwiderruflich arm” galten, haben inzwischen eine florierende Wirtschaft.
In den vergangenen Jahrzehnten hat es im Kampf gegen weltweite Armut erhebliche Fortschritte gegeben, über die – offen gesagt – nicht genug gesprochen wird.
Nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) lebten im Jahr 2015 zehn Prozent der Weltbevölkerung, also etwa 734 Millionen Menschen, in extremer Armut – das heißt mit weniger als 1,90 US-Dollar (rund 1,74 Euro) pro Tag. 1990 waren es noch 36 Prozent. Dabei muss bedacht werden, dass es sich dabei um Zahlen aus der Zeit vor der Pandemie handelt. Die Weltbank berichtet, dass infolge von COVID-19 etwa 97 Millionen Menschen mehr in die Armut getrieben wurden.
2. Hilfe zur Armutsbekämpfung ist eine Verschwendung
Der Geschäftsmann und Philanthrop Bill Gates sagt, einer der häufigsten Mythen über internationale Hilfe sei, dass es sich um Geldverschwendung handle. Das liege zum Teil daran, dass die Medienberichterstattung ein “verzerrtes” Bild zeichne, “mit großen Verallgemeinerungen auf der Grundlage kleiner Beispiele.”
Es ist ein schädliches Narrativ, das in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken kann, dass Unterstützung nicht funktioniert. Zudem liefert es den Regierenden einen Vorwand, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zu kürzen. Tatsächlich hat die britische Regierung genau das beispielsweise im Jahr 2020 getan und ihr Budget gekürzt. So wurden die Mittel für Syrien um 69 Prozent verringert. Eine der direkten Folgen dieser Kürzung ist, dass mehr als 40.000 syrische Kinder nicht mehr zur Schule gehen können.
3. Menschen aus der Armut zu holen, wird zu Überbevölkerung führen
Die Sorge um die wachsende Weltbevölkerung, insbesondere angesichts der Klimakrise und einer drohenden globalen Hungerkrise, ist verständlich – aber sie birgt auch eine Gefahr.
Denn man muss sich darüber im Klaren sein, dass das Eintreten für und der Schutz von Menschen, die in Armut leben, nicht zu einer Überbevölkerung führt. Es ist sogar genau das Gegenteil der Fall.
Das “Borgen-Projekt” zeigt, dass vielmehr Armut und mangelnder Zugang zu Bildung zu Überbevölkerung führen. Es gibt viele Gründe, warum die Bekämpfung der Armut und ihrer systemischen Ursachen auch zu einer Verringerung der Bevölkerungszahl beiträgt, darunter die Tatsache, dass bei einer höheren Sterblichkeitsrate von Kindern auch die Geburtenrate steigt. Wenn Menschen wissen, dass ihre Kinder Zugang zu medizinischer Versorgung haben und mit größerer Wahrscheinlichkeit gesund aufwachsen werden, bekommen sie weniger Kinder, weil die Gefahren, sie zu verlieren, geringer sind. Auch wenn Frauen und Mädchen Zugang zu Bildung und sexueller und reproduktiver Gesundheitsfürsorge wie Verhütungsmitteln haben, bekommen sie weniger Kinder.
4. Die Armut einer Person ist ihre eigene Schuld
Ein weit verbreiteter, aber völlig falscher Glaube ist: Wenn jemand in Armut lebt, liegt das daran, dass diese Person sich nicht genug anstrengt und hart genug arbeitet, um sich selbst aus der Armut zu befreien. Mit dieser Vorstellung wird die Verantwortung für die Beseitigung der Armut von der Gesellschaft auf den*die Einzelne*n abgewälzt. Mit anderen Worten: Armut wird so zu einem "Du"- oder "Die"-Problem, nicht zu einem "Wir"-Problem.
Eine der subtilen schädlichen Auswirkungen davon ist, dass er eine bequeme Entschuldigung dafür liefert, nichts gegen Armut zu unternehmen. Wenn Armut das Ergebnis individueller Unzulänglichkeiten ist und die Schuld an der Armut direkt auf die Schultern der Armen fällt, dann wäre es unwirksam und sinnlos, ihnen zu helfen.
Wie sieht dann die Realität aus? Nun, Armut ist eine komplexe und vielschichtige Realität. Sie hat ihre Wurzeln in strukturellen Hindernissen, systembedingten Diskriminierungen und Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten sowie sozialer Ausgrenzung. Armut ist ein Generationenproblem und viele Menschen, die in Armut leben, wurden in sie hineingeboren – und somit auch in den mangelnden Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Ernährung, Beschäftigung und so weiter, die für einen Ausweg aus der Armut unerlässlich sind.
5. Alle armen Familien sind gleich und auf die gleiche Weise arm
Obwohl extreme Armut als ein Leben mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag definiert ist, gibt es keine abschließende Aufzählung von Entbehrungen, die zur Beschreibung der Armutserfahrungen aller Menschen verwendet werden kann. Es gibt keinen einzigen Index, der die verschiedenen Arten, wie eine Familie oder eine Einzelperson Armut erlebt, angemessen erfassen kann.
6. Menschen in Armut können keine Lösungen für sich selbst entwerfen
Wenn Menschen die Macht haben, ihre eigene Armut zu benennen und ihre eigenen Probleme zu identifizieren, haben sie auch die Macht, der Gesellschaft insgesamt zu helfen, diese Probleme anzugehen.
Allzu oft stehen bei den Bemühungen zur Armutsbekämpfung, egal ob auf kommunaler, nationaler oder globaler Ebene, nicht die Stimmen und Erfahrungen derjenigen im Mittelpunkt, die in Armut leben und sie aus erster Hand erfahren.
Menschen, die in Armut leben, sind am besten in der Lage zu sagen, mit welchen Hindernissen sie konfrontiert sind und welche Ressourcen sie benötigen, um diese zu überwinden. Menschen, die direkt von Armut betroffen sind, brauchen einen Platz am Tisch und müssen von politischen Entscheidungsträger*innen gehört werden.
7. Nur Menschen, die obdachlos sind, sind wirklich arm
Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass man nur arm sein kann, wenn man obdachlos ist. Armut ist mehr als Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, ein niedriger Lebensstandard oder ein geringes Einkommen. Armut hat zahlreiche Ursachen und Erscheinungsformen.
Für viele Menschen, die von Armut betroffen sind, kann das einen Lebensstandard bedeuten, der Entbehrungen, Unterernährung, schlechte sanitäre Einrichtungen, mangelnden Zugang zu sauberem Trinkwasser, Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen sozialen Diensten sowie das Fehlen eines sozialen Sicherheitsnetzes umfasst.
8. Die Bereitstellung von Arbeitsplätzen ist das "Wundermittel" zur Lösung der Armut
Die Wahrheit ist, dass ein Arbeitsplatz einen nicht immer aus der Armut befreit. Viele Menschen haben Jobs, manchmal sogar mehrere und haben trotzdem Mühe, über die Runden zu kommen. Dies wird oft als "Armut trotz Erwerbstätigkeit" oder "Arbeitsarmut" bezeichnet.
Die weltweite Nachfrage nach Arbeitsplätzen – die durch die Verstädterung zunimmt, da immer mehr Menschen in die Städte ziehen – und die hohe Arbeitslosigkeit drängen laut Weltbank immer mehr Menschen in informelle, schlecht bezahlte und weniger produktive Jobs. Dies ist sowohl in Ländern mit geringem Einkommen als auch in einkommensstarken Ländern ein Problem. Im Vereinigten Königreich beispielsweise lebte die Mehrheit der Menschen, die im Jahr 2020 in Armut lebten, in Haushalten mit Erwerbstätigkeit.
9. Armut gibt es nur in Ländern mit niedrigem Einkommen
Armut gibt es in jedem einzelnen Land – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Es gibt unterschiedliche Definitionen und Methoden zur Messung von Armut, zum Beispiel die absolute Armut und die relative Armut, was Vergleiche zwischen den Ländern schwierig machen kann. In den USA leben beispielsweise rund 34 Millionen Menschen in Armut, im Vereinigten Königreich ist es etwas mehr als jede*r Fünfte, also etwa 14,5 Millionen Menschen.
Im Jahr 2018 verfasste der damalige UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut, Professor Philip Alston, einen vernichtenden Bericht, in dem er die zunehmende Armut in den USA kritisierte und behauptete, dass "die Vorteile des Wirtschaftswachstums überwiegend den Wohlhabenden zugutekommen."
10. Manche Menschen sind immun gegen Armut
Es stimmt, dass die geografische Lage und die globale finanzielle Ungleichheit wichtige Faktoren für die Entstehung von Armut sind. Dennoch kann Armut jede*n treffen und niemand ist dagegen immun.
Wie die NGO “Concern” hervorhebt, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 ein sehr gutes Beispiel dafür, dass Menschen auf der ganzen Welt durch Aussperrungen ihr Einkommen und ihre Existenzgrundlage verlieren. Auch die Klimakrise kostet Existenzen und die wirtschaftlichen Auswirkungen werden ohne umfassende und sofortige Maßnahmen nur noch zunehmen.
Ein Beispiel dafür ist Syrien, wo der Prozentsatz der in Armut lebenden Menschen infolge eines zehnjährigen Krieges von zehn auf 80 Prozent gestiegen ist. Nach der russischen Invasion in der Ukraine schätzten die Vereinten Nationen im März, dass neun von zehn Ukrainer*innen innerhalb eines Jahres von Armut betroffen sein könnten.
11. Jedes Kind hat die gleiche Chance auf Erfolg im Leben
Die Vorstellung, dass jedes Kind mit den gleichen Erfolgschancen ins Leben startet, ist ebenfalls falsch. In Wirklichkeit beginnen Kinder, die in Armut geboren werden oder von Armut betroffen sind, ihr Leben mit einem hohen Risiko, körperliche, soziale, emotionale, gesundheitliche und/oder Verhaltensprobleme zu entwickeln, die auf einen Mangel an Ernährung, körperlicher Stimulation oder emotionaler Entwicklung zurückzuführen sind.
Wenn sie älter werden und versuchen, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen, ergeben sich neue Herausforderungen – wie etwa der Zugang zu Bildung und zu Beschäftigung.
Auch wenn Armut nicht unüberwindbar ist, wird sie doch oft von Generation zu Generation weitergegeben. Das ist auch einer der Gründe, warum Investitionen in Frauen und Mädchen so wichtig sind, um den Kreislauf der Armut zu durchbrechen. Denn wie die gemeinnützige Organisation “Women Deliver” betont: "Belege aus der ganzen Welt bestätigen, dass Investitionen in Mädchen und Frauen einen Multiplikatoreffekt haben, der nicht nur für einzelne Frauen, sondern auch für Familien, Communities und Länder von großem Nutzen ist."
12. Armut ist zu kompliziert, um sie zu beseitigen und würde zu viel kosten
Es stimmt, Armut ist kompliziert, aber mit einer umfassenden Strategie, die Zusammenarbeit, Willenskraft von Führungspersönlichkeiten und eine globale finanzielle Koordinierung beinhaltet, ist die Beseitigung extremer Armut möglich. Die dafür erforderlichen Ressourcen sind bereits vorhanden.
Nelson Mandela sagte: "Wie die Sklaverei und die Apartheid ist auch die Armut nicht natürlich. Sie ist menschengemacht und kann durch das Handeln der Menschen überwunden und beseitigt werden.”
Aus diesem Grund hat unsere Kampagne “Extreme Armut beenden – JETZT und ÜBERALL”, die Anfang des Jahres gestartet wurde, Millionen von Global Citizens auf der ganzen Welt zusammengebracht, um von den Regierungen und Unternehmensführer*innen der Welt sofortige Maßnahmen in drei entscheidenden Bereichen zu fordern: die Stärkung von Mädchen und jungen Frauen auf der ganzen Welt, die Überwindung der systemischen Barrieren, die Menschen in Armut gefangen halten und sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen.
Zwar ist eine angemessene Finanzierung von entscheidender Bedeutung – und das nicht nur in Krisenzeiten als Notlösung, sondern als langfristige, nachhaltige Entwicklungsfinanzierung. Trotzdem kann die Bedeutung von starkem Willen und Entschlossenheit seitens der politischen Entscheidungsträger*innen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Regierungen, Wirtschaftsführer*innen und die wohlhabendsten Menschen der Welt müssen eine wichtige Rolle bei der Verabschiedung von Gesetzen und politischen Maßnahmen sowie bei der Bereitstellung von Finanzmitteln und Ressourcen spielen, um die grundlegenden Menschenrechte aller Menschen zu schützen und letztlich extreme Armut zu beenden.
Du kannst dich Global Citizens auf der ganzen Welt anschließen und dich für ein Ende extremer Armut einsetzen – melde dich einfach als Global Citizen an, lade dir die Global Citizen App herunter und werde aktiv.