“Die weibliche Genitalverstümmelung gab mir das Gefühl, nicht liebenswert zu sein. Jetzt kämpfe ich gegen diese Praxis an”

Léa Tardat

Warum das wichtig ist
Global Citizen setzt sich dafür ein, dass die Global Goals der Vereinten Nationen erreicht werden. Dazu gehört auch Goal 5 — die Gleichstellung der Geschlechter. Solange schädliche Praktiken wie weibliche Genitalverstümmelung (FGM) fortbestehen, wird es unmöglich sein, eine Welt zu schaffen, in der Frauen und Mädchen gleichberechtigt sind. Hier kannst du dich uns anschließen und dich für Frauen und Mädchen stark machen. 

Wie akut das Thema weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist, wird uns bei den Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bewusst: Schätzungsweise 100 bis 140 Millionen Frauen und Kinder werden weltweit genitalverstümmelt. Zudem wird davon ausgegangen, dass etwa drei Millionen Mädchen jedes Jahr Gefahr laufen, sich diesem brutalen Eingriff unterziehen zu müssen. 

FGM hat schwerwiegende psychologische und körperliche Folgen für die Betroffenen. Und solange diese Praxis existiert, sind wir weit davon entfernt, in einer gleichberechtigten Welt zu leben, in der Frauen und Mädchen körperliche Autonomie genießen und ein Recht auf die Kontrolle über ihren eigenen Körper haben.   

Marie-Claire Moraldo erlitt als Kind weibliche Genitalverstümmelung an der Elfenbeinküste. Nun widmet sie ihr Leben der Bekämpfung dieser Praxis: Sie gründete in Bordeaux, Frankreich, das Red Orchids Center

Mit Global Citizen teilt sie ihre Geschichte und blickt dabei auf ihre bewegende Reise und die Gründe zurück, durch die sie zur Aktivistin wurde.


Meine Großeltern mütterlicherseits haben mich im Norden der Elfenbeinküste großgezogen. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, hatte weder fließendes Wasser noch Strom. Ich habe gelernt, dass man für das, was man will, kämpfen muss. So habe ich auch versucht, die Ereignisse in meinem Leben zu verstehen. 

Mein Großvater hat immer zu mir gesagt: “Dein erster Ehemann wird deine Bildung sein.” Er wollte, dass ich unabhängig bin. Meine Mutter und meine Großmutter waren meine Vorbilder, sie beide waren sehr starke Frauen. 

Meine Mutter war gegen die weibliche Beschneidung [Anmerkung der Redaktion: ein weiterer Begriff für weibliche Genitalverstümmelung] und hat von ihren Eltern gefordert, dass sie mich nicht dazu bringen werden. Als ich neun Jahre alt war, hatte ich das Bedürfnis, der Familie meines Vaters näher zu kommen. Ich hatte nur ein Bild von ihm, ihn aber selbst noch nie gesehen. Also habe ich die Familie in den Schulferien besucht. Seine ältere Schwester hat auch mich aufgepasst, denn er hatte andere Dinge zu tun. 

Meine Tante brachte mich zu einer “Party”

Eines Morgens holte mich die Schwester meines Vaters ab, um mich zu einer Party zu bringen. Als wir dort ankamen, standen viele Mädchen vor einem Raum Schlange, den sie nacheinander betraten. Seltsamerweise kam jedes Mädchen, das in den Raum ging, weinend wieder heraus. Ich sagte zu meiner Tante: “Diese Party ist ziemlich komisch. Normalerweise lachen, tanzen und essen die Leute auf einer Party, aber hier wirkt es so, als würden alle weinen.” Sie erwiderte nichts und wir warteten weiter. Ich hatte keine Ahnung, was mir dort drinnen bevorstand. 

Als ich an der Reihe war, trat ich in den Raum ein. Drinnen waren vier Leute, die mich auf den Boden legten. Ich hatte keine Zeit zu realisieren, was vor sich ging. Einer von ihnen schnitt mir die Klitoris ab. 

Danach ging ich raus, ohne eine Erklärung oder Betreuung. Ich hatte keine Idee, was mir gerade widerfahren war oder wie es mein Leben als Frau beeinflussen würde. Als meine Ferien vorbei waren und ich wieder zurück zu meinen Großeltern kam, wurde nicht darüber gesprochen. Ich hörte nur, wie sich meine Großmutter mütterlicherseits darüber freute, dass ich beschnitten war.

Ich gebe den Leuten, die mir das angetan haben, keine Schuld. Traditionen sind stark und ich weiß, dass man sich selbst nicht durch Verbitterung wieder aufbauen kann. Also machte ich weiter wie bisher und kam sogar zu der Überzeugung, dass es normal war. In dieser Gegend [im Norden der Elfenbeinküste] wird weibliche Beschneidung von allen durchgeführt — Christen, Muslimen, Animisten und so weiter. 

Alle Mädchen in meinem Umfeld waren beschnitten. Es kam dazu, dass es unnormal schien, wenn jemand nicht beschnitten war. Meine Cousine unterzog sich der Prozedur erst sehr spät und ich erinnere mich daran, wie ich sie einmal nackt sah und dachte, dass ihre Klitoris seltsam aussah. Traditionen sind dort sehr tief verwurzelt. Einige Mädchen würden sogar darum bitten, beschnitten zu werden, nur um genau wie alle anderen zu sein!

Erst später habe ich darunter gelitten.

Erst als Jugendliche wurden mit die Folgen meiner Beschneidung klar

Als Jugendliche hörte ich das erste Mal durch Aufklärungskampagnen über mögliche schwerwiegende Folgen. Ich fing an, mir Sorgen zu machen und fragte mich, ob ich jemals einen Ehemann finden, ein Kind kriegen, ein normales Sexualleben führen könnte.


Doch erst als ich im Jahr 2002 zum Studium nach Abidjan, der Wirtschaftsmetropole der Elfenbeinküste, ging, traf es mich richtig. Im Süden der Elfenbeinküste wird weibliche Beschneidung nicht als Tradition angesehen. Leute, die wussten, dass ich vom Norden kam, ließen oft Kommentare los: “Ich hoffe, du bist wenigstens nicht beschnitten!”

Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir klar, dass es nicht normal war. Ich fing an, mich dafür zu schämen und habe gelogen, damit meine Freunde nichts davon erfuhren. Es war niederschmetternd, insbesondere wenn man bedenkt, was für Vorurteile es gegenüber beschnittenen Frauen gibt. Ich habe geglaubt, dass mich nie jemand wollen oder lieben würde. 

Aufgrund einer politischen Krise musste ich 2005 die Elfenbeinküste verlassen und in den Senegal umziehen. Ich habe dort als Außendienstmitarbeiterin gearbeitet und bin dann im Januar 2007 nach Marseille gezogen. Dort habe ich an der Kedge Business School meinen Masterabschluss in Management gemacht. 

Ich fühlte mich unwohl, da ich sehr darunter litt, was mir als Kind passiert ist. Es beeinflusste meine Beziehung zu mir selbst und zu anderen — besonders zu Männern. 

Im Juli 2015 entschied ich mich dazu, nach Bordeaux zu ziehen, denn mein Herz sagte mir, dass ich ein anderes Umfeld brauchte. 

Ich fühlte mich nicht als “echte” Frau

Im Sommer 2016 machte ich Urlaub in Senegal und lernte einen Mann kennen, der sich unsterblich in mich verliebte. Ich mochte ihn ebenfalls, hatte aber Angst, dass diese Liebe auf einer Lüge aufgebaut war, weil er nicht wusste, dass ich beschnitten war. Ich traute mich nicht, ihm davon zu erzählen, wollte ihn aber auch nicht anlügen. Also beschloss ich, keine Beziehung mit ihm einzugehen. Ich war mir sicher, dass er mich ablehnen würde, wenn ich es ihm erzählte. 

Das war der Zeitpunkt, an dem ich über eine Heilung nachdachte. Ich war die Qualen leid und wollte mich von ihnen befreien. Ich wollte wieder zu mir selbst finden, die Liebe in all ihren Facetten und ohne jegliche Angst spüren, indem ich mich als Frau annahm, die es verdient, respektiert und geliebt zu werden. Denn tief im Inneren habe ich nicht geglaubt, dass ich liebenswert war. Obwohl ich mich um mein Aussehen kümmerte und sexy Kleidung trug, fühlte ich mich zu dieser Zeit nicht wie eine “echte” Frau. 


Als ich nach Frankreich zurück flog, setzte ich mir einen Termin für eine Operation in Paris. Ich wurde am 7. Dezember 2016 operiert [Anmerkung der Redaktion: Bei einer rekonstruktiven Operation werden die geschlechtsspezifischen Funktionen wieder hergestellt] — ein Datum, das ich als meinen zweiten Geburtstag ansehe, denn an diesem Tag habe ich Frieden mit mir selbst und mit anderen geschlossen.

Jetzt fühle ich mich wie eine vollwertige Frau, weil ich endlich diesen Teil von mir wiedererlangt habe, der mir mit neun Jahren weggenommen wurde. 

Der unermessliche Trost, den ich durch diese Operation erhalten habe, hat mich dazu gebracht, meine Erfahrungen mit anderen zu teilen. 

Nach der Heilung begann der Kampf

Aus diesem Grund habe ich im März 2017 Red Orchids gegründet — ich konnte einfach nicht tatenlos zusehen. Ich habe es mir zur lebenslangen Aufgabe gemacht, mit Leib und Seele gegen weibliche Beschneidung zu kämpfen. Mein Verein bietet mir die Möglichkeit, Projekte in Frankreich und Afrika zu realisieren, insbesondere an der Elfenbeinküste. 


Unsere Arbeit umfasst Präventions- und Aufklärungskampagnen gegen weibliche Genitalverstümmelung und Zwangsheirat, eine ganzheitliche Unterstützung für Frauen während ihrer emotionalen und körperlichen Genesung, Gesundheitstraining, berufliche und soziale (Wieder-)Eingliederung sowie Rehabilitation der ehemals von der Praxis Betroffenen. 

Am 7. September 2020 haben wir im Stadtteil Saint-Seurin in Bordeaux die erste regionale Versorgungseinheit eröffnet, die auf eine ganzheitliche Betreuung von Betroffenen weiblicher Genitalverstümmelung und Zwangsheirat spezialisiert ist. 

Seitdem hat die Station verschiedene Fachleute zusammengeführt, die für die umfassende Betreuung von Überlebenden weiblicher Genitalverstümmelung ausgebildet sind. Dazu gehören unter anderem Gynäkolog*innen, Chirurg*innen, Allgemeinmediziner*innen, Sexualtherapeut*innen, Psycholog*innen, psychosoziale Therapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, Anwält*innen, Osteopath*innen, Therapeut*innen der Psychomotorik und Fachleute für Wellness und berufliche Integration. Zudem haben wir Gesprächsgruppen, Kunsttherapie und sozio-ästhetische Workshops, Tanztherapie sowie Yoga- und Achtsamkeitskurse eingerichtet. 


Seit der Gründung meines Vereins wurde ich für meinen Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung und Zwangsheirat mit dem Initiativpreis sowie der Medaille der Stadt Bordeaux und einem Global Woman Award in Washington ausgezeichnet. 

Heute bin ich eine glückliche Partnerin und Mutter. Ich möchte allen Betroffenen von weiblicher Genitalverstümmelung oder anderen Formen der Gewalt in dieser Welt sagen, dass es nicht ihr Leben definieren muss. Ich möchte ihnen sagen, dass sie das durchstehen können. Sie können dem, was sie in ihrem Leben durchmachen mussten, einen Sinn geben. Nur, wenn sie auf diesen schmerzhaften Erfahrungen aufbauen, können sie ein glückliches Leben führen, das ihren tiefsten Erwartungen entspricht. 

Sie müssen sich von den Meinungen anderer und der Last von Traditionen befreien, um ein Leben zu erreichen, in dem sie aufblühen. Die Gewalt, die sie erfahren haben und die schmerzhaften Ereignisse, die sie ertragen mussten, dürfen nicht bestimmen, was mit ihnen im Leben geschieht. 

Wie Jean-Paul Sartre bereits sagte: “Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.”


Hier findest du inspirierende Geschichten – erzählt von Menschen rund um den Globus, die von extremer Armut betroffen sind und sich für eine gerechte Welt engagieren. Ob im Einsatz für sauberes Wasser, den Zugang zu Bildung oder für ausreichend Lebensmittel – bei “In My Own Words” teilen wir Geschichten von Menschen, deren Stimmen viel zu selten gehört werden.