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Das Leben im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos glich schon vor dem Brand und der Coronakrise einem Kampf ums Überleben. Für die Bewohner*innen des überfüllten Lagers gab es nicht genug Nahrung, Trinkwasser und Unterkünfte. Die Sicherheitslage war bedenklich.
Denn: Während das Flüchtlingscamp Moria ursprünglich für weniger als 3.100 Menschen gedacht war, lebten zuletzt mehr als 13.000 Geflüchtete dort.
Als am 8. September ein verheerendes Feuer das gesamte Lager zerstörte, verloren 12.000 Menschen ihr Hab und Gut, ihre Unterkunft und ihren Zugang zu Sanitäreinrichtungen – ausgerechnet während einer Pandemie.
Der 21-jährige Fotograf und Geflüchtete Yousif Al Shewaili lebt seit drei Jahren auf Lesbos. Er erzählt hier von seinem Leben im Lager Moria – und wie es den Tausenden von Geflüchteten auf Lesbos nach dem Brand geht.
“Mein Name ist Yousif Al Shewaili, ich bin 21 Jahre alt. Ich komme aus dem Irak und lebe seit drei Jahren auf Lesbos in Griechenland.
Schon im Irak habe ich fotografiert. Als ich genug Arbeit hatte, um mir eine Kamera zu kaufen, habe ich hier wieder angefangen. Seitdem ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich meine Kamera nicht in die Hand genommen habe. Ich berichte über das Leben im Lager von Moria, dem größten Flüchtlingscamp Europas.
Ich kam mit vielen Träumen und Zielen aus dem Irak nach Griechenland. Mein einziger Gedanke bei meiner Ankunft: Jetzt bin ich sicher und frei. Ich dachte daran, mir endlich eine Zukunft aufbauen und meine Träume verwirklichen zu können.
In meinem Heimatland waren diese Träume unerreichbar – was einer der Gründe ist, warum ich geflüchtet bin. Natürlich habe ich zunächst gekämpft und gekämpft, habe versucht, meine Ziele im Irak zu erreichen. Doch dann ging es plötzlich um mein Leben. Ich flüchtete und nahm meine Träume mit. Ich hoffte, die Flucht würde nicht deren Ende bedeuten.
Als ich in Griechenland ankam, wurde ich am Strand abgeholt und zu einem Ort gebracht, der mich an ein Gefängnis oder Schlimmeres erinnerte. Es war das Flüchtlingscamp Moria. Ich werde nie das große Zelt vergessen, in das sie uns gebracht haben, das „Empfangszelt“. Dort wartete ich mit unzähligen Menschen, verschiedene Nationalitäten und Sprachen trafen aufeinander.
Das Einzige, was wir alle gemeinsam hatten: Unsere Reise über das Meer und unsere Erinnerungen an das Leben, das wir zurückgelassen hatten.
Zu Beginn war ich oft allein. Ich dachte nach und versuchte, Frieden zu schließen mit dem, was ich durchgemacht hatte. Ich fragte mich, ob meine Träume jemals wahr werden würden. Als es mir gelang, einen Termin bei der EASO zu vereinbaren, dem Asylantragsbüro des Lagers, wartete ich stundenlang, bevor ich endlich aufgerufen wurde.
Eine Frau kam hinter dem Zaun hervor und rief meinen Namen. Sie sagte, dass das Gespräch für meinen Asylantrag in eineinhalb Jahren stattfinden würde. Ich ging zurück zu meinem Zelt, war sprachlos. In meinem Kopf kreisten meine Gedanken darum, wie ich so lange am Leben bleiben könne, mich ernähren, schützen könne. Ich fand keine Antwort, hatte ein Klingeln in den Ohren als wäre ich geschlagen worden.
Statt über Ziele und Träume nachzudenken, musste ich Tag und Nacht um meine Sicherheit fürchten. Darüber, dass ich nicht genug zu essen hatte, nicht genug Geld hatte, um Lebensmittel zu kaufen. Ich hatte kein Trinkwasser und war von der Ausgabe im Camp abhängig. Ich hatte keine Papiere, um arbeiten zu können oder das Lager zu verlassen. Mein Fokus lag nicht länger auf Zielen oder Träumen. Sondern nur darauf, mich am Leben zu halten. Ich lebte dieses Leben bis ich schließlich den positiven Bescheid auf meinem Asylantrag erhielt.
Diese Erinnerungen sind nur Momentaufnahmen. Während ich diesen Text schreibe, durchleben viele noch immer diese Hölle, die auch ich durchlebt habe.
Mit dem Coronavirus ist die Situation für die Geflüchtete auf Lesbos nun endgültig außer Kontrolle geraten. 13.000 Menschen, darunter bestätigte Coronainfizierte, sind gezwungen, auf einer einzigen Straße zu leben – ohne Zugang zu Sanitäreinrichtungen oder Gesichtsmasken. Man kann sich vorstellen, wie schnell sich das Virus dort ausbreiten kann.
Seit dem Brand konzentrieren sich die NGOs hauptsächlich auf Nahrung und Wasser. Der Zugang zu medizinischer Versorgung kann derzeit nicht gewährleistet werden.
So tragisch das Feuer und seine Folgen sind: Es weckte bei den Geflüchteten Hoffnung auf ein besseres Leben außerhalb des Camps, vielleicht auf dem Festland oder in einem anderen Land.
Doch die griechische Regierung machte diese zunichte als sie verkündete, dass es keine Umsiedlung auf das Festland geben würde. Einige Kilometer von Moria wird bereits ein neues Lager gebaut.
Der Alltag der Menschen im Flüchtlingscamp ist seit dem Brand noch härter. Zuvor wurden dreimal pro Tag Lebensmittel ausgegeben. In den vergangenen zwei Tagen haben sie jedoch gar keine Nahrung erhalten.
Sie schlafen nicht mehr in Zelten, die zumindest ein wenig Schutz bieten, sondern auf der Straße. Während sie zuvor etwa einmal pro Woche duschen konnten, haben sie nun gar keine Sanitäreinrichtungen mehr. Zuvor mussten sie lange auf Unterlagen oder Ausweispapiere warten, nun erhalten sie gar keine mehr, da das Büro abgebrannt ist.
Die Leute hier sprechen nur über die Gegenwart, sie konzentrieren sich auf das „Jetzt“. Wir sprechen über Gerüchte, darüber, was wir von anderen Leuten hören.
In unseren Köpfen ist nur Platz, um darüber nachzudenken, wie wir Nahrung oder Wasser bekommen können. Und wenn wir uns schließlich schlafen legen, denken wir an unsere Träume. Die Träume, die uns dazu gebracht haben, das Mittelmeer zu überqueren, um nach Europa zu gelangen.
Die Atmosphäre ist sehr angespannt. Denn seit Tagen, in einigen Fällen Monaten oder sogar Jahren, sind die Menschen nicht mehr richtig zur Ruhe gekommen. Die meisten haben durch den Brand alles verloren – es fehlt an Kleidung, Decken, Medikamenten. Der geringste Konflikt zwischen den Menschen eskaliert.
Etwa 13.000 Menschen leben unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen. Das ist nicht nur eine Zahl, sondern 13.000 zum Schweigen gebrachte Stimmen.
Ich begann, die Menschen in Moria zu fotografieren und zu filmen, um ihnen eine Stimme zu geben. Ich habe die gleichen Dinge durchgemacht, das Meer überquert, über ein Jahr lang in diesem Flüchtlingscamp gelebt. Und auch ich hatte das Bedürfnis, über all das zu sprechen. Ich wollte den Entscheidungsträger*innen dieser Welt etwas sagen – als Einzelperson. Deshalb versuche ich jeden Tag, die Träume, die Hoffnungen und Würde der Menschen in Moria darzustellen. Ich will zeigen, dass wir alle Menschen sind.
Ich möchte der Welt unsere Geschichten erzählen, ich möchte unser Leid schildern, ohne unsere Würde zu verletzen. Ich möchte unsere Herausforderungen zeigen, wie hart unser Leben ist, ohne uns unsere Stärke zu nehmen.
Diese Arbeit gibt mir Hoffnung. Selbst unter den schlimmsten Lebensbedingungen haben die Menschen Träume. Sie behalten ihren Glauben. Sie sind weiterhin Menschen.
Das ist die Lösung – nicht Politik, nicht Geld, sondern die Menschlichkeit. Es gibt mir Hoffnung, mir die Menschen, denen ich täglich begegne, als Beispiel zu nehmen..
In Moria verlieren viele junge Menschen ihre Träume, während sie um ihr Leben kämpfen. Ich gehöre zu denjenigen, die gegen die psychischen Belastungen des Camps verloren haben. Während ich das schreibe, verlieren Tausende weitere diesen Kampf. Zum Glück erhellt sich die Welt für mich wieder ein wenig, wenn ich fotografiere, wenn ich anderen helfen kann, Geschichten zu erzählen.
Der nächste Schritt für mich ist: auf der Insel Lesbos bleiben, bis es dort kein menschenunwürdiges Flüchtlingscamp mehr gibt. Ich möchte, dass es vor meinen Augen geschlossen wird. Und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, damit das so bald wie möglich passiert.”