Der wirtschaftliche Erfolg von Ländern sollte nach dem Wohlbefinden seiner Bürger*innen beurteilt werden – und nicht nach Höhe des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Diesen Standpunkt vertrat der neuseeländischen Finanzminister Grant Robertson beim sogenannten Frühlingstreffen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington, DC.
Robertson erklärte, dass Wirtschaftswachstum nur stattfinden könne, wenn Bildungsangebote, der Zugang zum Gesundheitssystem und das generelle Wohlbefinden der Menschen gesichert wären. Aufgrund des schnellen technologischen Fortschritts sei dies von enormer Bedeutung, so Robertson.
“Wir wissen nicht, welche Jobs es in 20 Jahren noch geben wird”, sagte er. “Aber je mehr wir heute lernen, desto erfolgreicher werden wir in der Zukunft sein.”
“Unser Bildungssystem muss sich auf grundlegende Dinge konzentrieren – zum Beispiel wie man empathisch zusammenarbeitet, anderen richtig zuhört, kreativ sein kann und komplexe Probleme löst”, fügte Robertson hinzu.
Den Anstoß für diesen Perspektivwechsel hat die neuseeländische Bevölkerung gegeben: Das BIP des Landes ist seit Jahren hoch, aber die Menschen sehen die vielen in Armut lebenden Kinder, Obdachlosen und verschmutzten Flüsse als Beleg dafür, dass das Land nicht sein volles Potenzial ausschöpft.
Diese Stimmung in der Bevölkerung hat die Regierungsbehörden dazu angehalten, bei der Aufstellung von Haushaltsplänen von nun an auch das Wohlergehen der Menschen mitzudenken.
“Die wirtschaftlichen und sozialen Argumente sprechen klar dafür, in menschliches Kapital zu investieren”, sagte Robertson auf einer Podiumsdiskussion mit dem Titel "The Economic and Social Case for Human Capital Investments”, bei dem es um das Human Capital Project der Weltbank ging.
“Um ein nachhaltiges Wirtschaftssystem zu schaffen, müssen wir alle Dimensionen mitdenken”, sagt er. “Wenn wir Bildung, generationsübergreifendes Wissen und Wohlbefinden ausklammern, untergraben wir unser Wirtschaftssystem”.
Die Weltbank hat den sogenannten Human Capital Index entwickelt, mit dem weltweit gemessen werden kann, ob Kinder ihr volles Potential ausschöpfen. Unter anderem wird dafür untersucht, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Kind älter als fünf Jahre alt wird, wie viele Jahre Kinder zur Schule gehen, sowie die Qualität des Lernumfeldes und die Wahrscheinlichkeit von Entwicklungsstörungen.
Das Land mit dem höchsten Human Capital Index ist Singapur. Dort wird massiv in das Bildungs- und Gesundheitssystem investiert. Der geringste Wert wird im zentralafrikanischen Tschad erreicht, wo 87 Prozent der Menschen in Armut leben.
Kristalina Georgieva, die ehemalige kommissarische Präsidentin der Weltbank, ist der Meinung, dass der Human Capital Index Ländern einen neuen Rahmen für die Betrachtung von Entwicklung böte. Sie betont, dass Politiker*innen nicht mehr nur auf kurzfristige Wahlergebnisse schauen dürften. Investitionen in menschliches Kapital würden sich oft erst nach Jahren auszahlen, sagt sie. Langfristig wäre der wirtschaftliche Nutzen allerdings enorm und weltweit würden Billionen von Dollar gespart werden.
The #HumanCapital Index made it clear that delivering better outcomes in health + learning can significantly boost the prosperity of people and societies. More than 60 countries commit to the Human Capital Project to #InvestinPeople. LIVE: https://t.co/pSZudLKf7Ipic.twitter.com/T5l717BOrI
— World Bank Live (@WorldBankLive) April 10, 2019
Aufgrund der Ungleichheit der Geschlechter büße die Weltwirtschaft zur Zeit 164 Billionen Dollar an wirtschaftlichen Aktivitäten und Wertschöpfungen ein, erläutert Georgieva.
“Wer ist von Lebensmittelknappheit am meisten betroffen? Mädchen, nicht Jungs”, sagt sie. “Wenn sie aufgrund von Hunger unterentwickelt sind, beenden sie in der Regel die Schule nicht, heiraten früh und gebären wahrscheinlich selbst unterentwickelte Kinder. So entsteht ein Armutskreislauf.”
“Das ist kein leeres feministisches Gerede”, fügt Georgieva hinzu. “Es geht hier um das Wohlbefinden von Familien und ganzen Staaten.”
Während reiche Länder wie Neuseeland sich auf Umschulungen von Menschen und deren Wohlbefinden konzentrieren, geht es in Ländern wie Nigeria um die Bekämpfung von extremer Armut, beschreibt Zouera Youssoufou. Sie ist Geschäftsführerin der Dangote Stiftung – der größten privaten Stiftung Afrikas südlich der Sahara, die in Bildung und dem Zugang zur Gesundheitsversorgung investiert.
“Viele Menschen haben keinen Zugang zu Bildung. Manche sind überhaupt nicht im System erfasst”, sagte sie bei der Podiumsdiskussion. “Es geht nicht darum, ob die Menschen hoch spezialisierte Fähigkeiten haben oder nicht, es geht um basale Aspekte, wie die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben oder zu rechnen. Nur so können Menschen an der wirtschaftlichen Welt teilnehmen.”
“So viele Kinder sind mangelernährt und daher nicht in der Lage, je ihr volles Potential auszuschöpfen”, fügt sie hinzu.
In Nigeria leben mehr Menschen in extremer Armut als sonst auf der Welt. Damit hat das Land Indien überholt. Mehr als 123 Millionen Menschen in Nigeria haben keinen Zugang zu sicheren und sauberen Toiletten, 59.500 Kinder unter fünf Jahren sterben jährlich an den Folgen von schlechten sanitären Bedingungen und dem Mangel an sauberem Wasser.
Georgieva ist überzeugt, dass das neue Projekt der Weltbank Ländern dabei hilft, den Zugang zu Wasser, Nahrung und Bildung an ein umfassenderes Verständnis von ökonomischer Entwicklung zu koppeln.
Denn bereits ein zusätzliches Jahr in der Schule habe in manchen Teilen Afrikas das Potential, das spätere Einkommen der Schüler*innen um 12 Prozent zu erhöhen, so Georgieva.
"Wenn wir die Diskussion, die wir heute über das Humankapital führen, von den Gesprächen absondern, die wir über Strom, Konnektivität, Mobilität und der Funktionsweise von Ernährungssystemen führen sollten, entwickeln wir uns tatsächlich zu einem isolierten System”, resümiert Kristalina Georgieva.