Solange man seinen Fuß nicht über die Ziellinie gesetzt hat, hat man nicht gewonnen. Alles davor ist wichtig, aber am Ende kommt es darauf an, diesen letzten Schritt zu gehen. Das gilt für den Sport – und auch für die Ausrottung von Krankheiten.
Seit Jahrzehnten arbeitet die Weltbevölkerung daran, Polio auszurotten – und hat viel erreicht. Vor 30 Jahren erlitten jährlich mehr als 350.000 Kinder in mehr als 125 Ländern dauerhafte Lähmungen durch eine Polioinfektion. Die Zahl der Poliofälle wurde seitdem um 99,9 Prozent verringert. Heute kommt Polio nur noch in Pakistan und Afghanistan vor. Nigeria steht kurz davor, offiziell als poliofrei zu gelten.
Jetzt ist es an der Zeit, Geschichte zu schreiben. Dafür muss die “Globale Initiative zur Ausrottung von Polio” (GPEI) von Regierungen weltweit unterstützt werden. Denn die Eliminierung von Polio liegt in der globalen Verantwortung. Gemeinsam mit “Rotary International” haben wir am Weltpoliotag 2019 einen parlamentarischen Abend veranstaltet, um mit Politiker*innen und Aktivist*innen über die finalen Hürden und die Rolle Deutschlands bei der Polioausrottung zu sprechen. Das sind unsere Erkenntnisse des Abends.
Impfpass dabei?
Klein, gelb und meist gut versteckt: Nur selten halten wir unseren Impfpass in den Händen, obwohl er eine große Bedeutung für unsere Gesundheit hat. Um sicher zu stellen, dass unsere Gäste ihren Impfpass griffbereit haben (und mal wieder einen Blick in ihren echten werfen) haben wir ihnen am Empfang einen ausgestellt – Programm für den Abend inklusive.
Heute ist #Weltpoliotag! Wann war euer letzter Blick in den Impfpass? #Polio ist zwar zu 99,9% ausgerottet, muss aber immer noch auch auf der ganzen 🌍 geimpft werden! Unter der Schirmherrschaft von @SteffenSonja veranstalten wir heute mit @RotaryDE einen Abend zu #EndPolioNow! pic.twitter.com/ikj49z5n5O
— Global Citizen (@GlblCtznDe) 24. Oktober 2019
Eröffnet wurde unser Abend zu #EndPolioNow von der Schirmherrin des Abends Sonja Steffen, Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Haushaltsausschuss, sowie von Carolin Albrecht, Deutschlanddirektorin von Global Citizen, und Anne von Fallois, National Advocacy Advisor Germany von Rotary International.
Deutschlands Engagement bei der Polioausrottung
Sonja Steffen wies in ihrer Begrüßung auf die Bedeutung des globalen Engagements bei der Polioausrottung hin und darauf, dass sie das Thema weiterhin prominent im Bundestag diskutieren werde: “Ich habe erst heute mit dem Bundesminister [für Gesundheit] Spahn im Ausschuss über Polio gesprochen, denn heute wurde bekannt gegeben, dass zwei der drei Polio-Wildviren weltweit ausgerottet werden konnten.”
Damit verweist Steffen auf die Mitteilung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Weltpoliotag 2019. Bislang gelang die Ausrottung von wildem Polio weltweit erst bei einem der drei Virustypen. Gleichzeitig äußerte das Robert Koch-Instituts (RKI) Grund zur Besorgnis hinsichtlich der sinkenden Impfquoten in Deutschland. Diese lagen beim vergangenen Schulstart nur noch bei 92,9 Prozent. Steffen kommentierte: “Die meisten Menschen müssen wieder aufgerüttelt werden. Die Impfquote in Deutschland geht zurück. Wir wollen uns darum kümmern, dass Polio endgültig ausgerottet und die Unterstützung für die GPEI im Haushalt verstetigt wird.”
Diese angestrebte Weiterführung der Bemühungen Deutschlands bestätigte Martin Jäger, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). “Die Geschichte der Krankheit Polio ist hinsichtlich der Erfolge sowohl beeindruckend, als auch bedrückend. Wenn man einen Blick in die Vergangenheit wirft – wie in die 50er Jahre, als es in den USA und später auch in Deutschland zu einer Polio-Epidemie kam – wird deutlich, dass Polio vielleicht nicht die tödlichste, aber mit Sicherheit die gefürchtetste Kinderkrankheit der Welt war”, sagt Jäger in seiner Rede.
Dies müsse wieder in das Bewusstsein der Menschen gebracht werden, denn auch wenn die Zahlen der Polioinfektionen weltweit massiv zurückgegangen sind, brauche es nun den finalen Ruck, appellierte Staatssekretär Jäger: “Wir dürfen uns nicht auf den niedrigen Zahlen ausruhen. Wir müssen rausgehen und laut und deutlich sagen: Nun ist nicht die Zeit, nachzulassen. Das Ziel, Polio auszurotten, ist in Reichweite. Und so wie es uns gelungen ist, die Pocken zu eliminieren, werden wir es auch schaffen, Polio ein für alle Mal zu besiegen.”
Bevor das Wort an die Podiumsdiskussion überreicht wurde, wendete sich Christopher Maher, Senior Berater beim Generaldirektor der WHO für Polioausrottung, mit einer eindringlichen Aufforderung an alle Anwesenden: “Wir stehen an einem entscheidenden Punkt bei der Ausrottung dieser Krankheit. Denn die positiven Entwicklungen zeigen uns: Was wir tun, und wie wir es tun, wirkt. Dennoch können wir in den Ländern, die als offiziell poliofrei gelten, sehen, dass der Kampf gegen Polio auch dort nicht aufhört. Was wir nun neben der bereits bestehenden Infrastruktur brauchen, ist vor allem der soziale und politische Wille aller beteiligten Länder.”
Die finalen Hürden
Laiq Karimi, der selbst als Impfhelfer in Afghanistan tätig war und mehrere Impfteams vor Ort anleitet, betonte an diesem Abend die anhaltenden infrastrukturellen und politischen Herausforderungen: “Es ist sehr schwierig, den Menschen zu erklären, dass die Impfung gegen Polio für ihre Kinder lebenswichtig ist. Zudem fehlt die Infrastruktur. Die Impfhelfer*innen haben keine Transportmöglichkeiten und müssen die Dörfer meist zu Fuß erreichen. Wir sind von Tür zu Tür und in Moscheen unterwegs, um über die Sicherheit der Impfungen aufzuklären. Aber die Leute haben Angst und unsere Arbeit ist gefährlich.”
Der anhaltende Krieg erschwert es den Impfteams zusätzlich, Kinder mit dem Impfstoff zu versorgen, vor allem im Norden Afghanistans. “Die Taliban halten uns davon ab, Kinder in Nordafghanistan zu impfen. Deshalb kommen dort die meisten Neuinfektionen von Polio vor. Zudem ist es durch den Kriegszustand für die Frauen unter unseren Impfhelfer*innen oft zu gefährlich, auf die Straße zu gehen. Deshalb müssen wir Männer losschicken. Ist eine Mutter allerdings alleine zu Hause, weil ihr Ehemann unterwegs ist, wird sie ihr Kind nicht zu uns nach draußen lassen, damit wir es impfen können.”
Ein weiteres Problem bei der Durchführung von Polio-Impfungen ist das Aufrechterhalten der Kühlkette – wird sie unterbrochen, nimmt die Wirkung des Impfstoffs ab. Karimi erklärt, dass dies unter den klimatischen Bedingungen in Afghanistan und mit den mangelhaften Ressourcen vor Ort oft nicht garantiert werden kann.
Neben diesen infrastrukturellen Hürden stand das sinkende Bewusstsein für die Relevanz von Impfungen ebenfalls im Zentrum der Diskussion. Dr. Georg Kippels MdB, Vorsitzender des “End Polio Now” Parlamentarischen Beirats, sagte dazu: “Wir sind zu früh siegessicher und das hohe Risiko der Krankheit gerät dadurch in den Hintergrund.” Zudem solle der Fokus der Entwicklungszusammenarbeit auf dem Ausbau nachhaltiger und stabiler Gesundheitssysteme liegen. “Transition bedeutet Nachhaltigkeit. Deshalb müssen die Gesundheitshelfer*innen unterstützt werden und eine bessere Vernetzung der beteiligten Partnerschaften stattfinden”, so Kippels.
Ein Faktor, der ganz konkret mit diesem sinkenden Bewusstsein in Zusammenhang steht, ist “das Phänomen Social Media, das die Verbreitung von Fehlinformationen erleichtert”, so Tanya Herfurth, Mitbegründerin und Vorsitzende von “Young Leaders for Health”. “Das wirkt dem essentiellen Ziel, nachhaltige Gesundheitssysteme aufzubauen, entgegen. Deshalb muss Deutschland seine Unterstützung für die GPEI zweifach aufrechterhalten – einseitseits finanziell aber auch informationsgeleitet.”
Unter den Gästen waren NGO-Vertreter*innen, Politiker*innen, Forscher*innen und Global Citizens, wie die Super-Aktivistin Franziska Warner. Sie ist extra für den Abend von Hamburg nach Berlin gereist und schon oft bei Global Citizen aktiv geworden. “Das Gefühl, dass deine eigene Aktion – sei es in Form einer Petition, oder eines Tweets an Politiker*innen – etwas bewirken kann, ist einfach großartig und hat mich schon beim Global Citizen Festival in Hamburg sehr berührt”, sagt sie.
Damit ist sie nicht allein. Am Weltpoliotag haben wir die Stimmen von über 83.338 Global Citizens an den Staatssekretär Martin Jäger übergeben. Gemeinsam fordern wir die Bundesregierung dazu auf, ihre weitere Unterstützung für die GPEI bei der kommenden Finanzierungskonferenz in Abu Dhabi am 19. November zuzusagen. Denn nur so können wir sicherstellen, dass die Weltgemeinschaft bei der Polioausrottung endlich über die Zielgerade kommt.