Pakistan ist neben dem benachbarten Afghanistan nach wie vor eines der beiden Länder auf der Welt, in denen das wilde Poliovirus noch auftritt. Zwar sind die Poliofälle seit 1998 weltweit um 99 Prozent zurückgegangen, doch verhindern komplexe Herausforderungen wie die derzeit katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan eine vollständige Ausrottung der Krankheit.
Am 8. August 2022 gab es 14 Fälle von Polio-Wildvirus Typ 1 (WVP1) im Land. Dies ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu 2021, in dem Pakistan im gesamten Jahr nur einen Fall von WVP1 und acht Fälle von zirkulierendem, durch Impfung gewonnenem Poliovirus Typ 2 (cVDPV2) verzeichnete.
Poliomyelitis, auch Kinderlähmung genannt, ist eine hochinfektiöse Viruserkrankung, die von Mensch zu Mensch übertragen wird, vor allem durch fäkal-orale Übertragung oder, seltener, durch Tröpfchen einer infizierten Person oder durch einen gemeinsamen Träger wie kontaminiertes Wasser oder Lebensmittel. Während die meisten Fälle von Polio asymptomatisch verlaufen, kann das Virus zu Lähmungen oder zum Tod führen.
Obwohl es keine Heilung für Polio gibt, kann die Infektionskrankheit durch sichere und wirksame Impfstoffe verhindert werden: den oralen Polio-Impfstoff (OPV) oder den inaktivierten Polio-Impfstoff (IPV), der ein Kind lebenslang schützen kann.
A polio vaccinator working in a high-risk, marginalized area where dirty water and sewerage acts as a breeding ground for poliovirus and other water-borne diseases in Sultanabad, Karachi, Pakistan on Aug. 21, 2022.
Einige Bevölkerungsgruppen in Pakistan, wie Nomadengruppen, die aus wirtschaftlichen oder saisonalen Gründen von Ort zu Ort ziehen, sind einem größeren Risiko ausgesetzt, sich mit Polio anzustecken. Darüber hinaus stellen Konflikte und unsichere Verhältnisse weitere Herausforderungen dar, sowohl für die Sicherheit des Gesundheitspersonals als auch für die örtliche Bevölkerung, die mit größerer Wahrscheinlichkeit vertrieben wird und daher schwerer zu erfassen ist.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ein System eingeführt, um diese Gruppen aufzuspüren, ihre Siedlungen zu identifizieren und sicherzustellen, dass es spezielle Teams gibt, die die Impfungen der Kinder überwachen. Hamid Jafari, Direktor für die Ausrottung der Kinderlähmung bei der WHO, erklärte, dass Stammesgruppen im Land "schwer zu erfassen sind, sowohl bei der Überwachung als auch bei den Impfungen".
Die Stammesgebiete, die halbautonom waren und früher als föderal verwaltet galten, sind jetzt Teil der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa, die im Nordwesten entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze liegt.
"Es sind diese sehr schwierigen Stammesgebiete, in denen es viel politische und soziale Unsicherheit und Komplexität gibt – und dort haben wir viele ungeimpfte Kinder entdeckt", sagte Jafari gegenüber Global Citizen.
In einigen Gebieten des Landes fehlt es auch an wichtigen Wasser- und Sanitärinfrastrukturen, was einen Nährboden für Viren zur Folge hat. Darüber hinaus sind in einigen Regionen Mythen und Verschwörungstheorien über den Impfstoff weit verbreitet, die dazu führen, dass die Menschen glauben, der Polio-Impfstoff sei eine westliche Intervention zur Sterilisierung der Bevölkerung oder die Einnahme des Impfstoffs sei haram, also nach islamischem Recht für Muslime verboten.
Während diese Fehleinschätzungen weit verbreitet sind, nahm die Impfzurückhaltung in Pakistan außerdem zu, als eine Untersuchung ergab, dass die CIA eine gefälschte Impfaktion in dem Land organisiert hatte, um DNA von Osama bin Ladens Familie zu erhalten. Dies hatte unmittelbare Auswirkungen, da einige internationale Gesundheits- und Entwicklungsorganisationen aus dem Land ausgewiesen wurden, obwohl sie nicht an der Razzia beteiligt waren. Die Konsequenzen sind langanhaltend, da Forscher*innen in den folgenden Jahren in einigen Bezirken einen Rückgang der Impfraten (um 29 Prozent bei Polio und 39 Prozent bei Masern) feststellten.
A polio vaccinator's backpack is photographed while out in the field in Karachi, Pakistan on Aug. 21, 2022.
Das Gesundheitspersonal an vorderster Front ist in Pakistan regelmäßig Sicherheitsrisiken wie Schikanen und Anschlägen ausgesetzt. Im Juni wurden ein Polio-Mitarbeiter und zwei Beamte während einer Polio-Impfkampagne in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa erschossen. Anfang des Jahres wurden eine Polio-Mitarbeiterin und ein Beamter, der für die Sicherheit des Gesundheitspersonals sorgte, bei verschiedenen Vorfällen ermordet.
Sufi Mujhgan Nazish Karim, eine Gesundheitsaktivistin aus der Provinz, die seit 2014 in Stammesgebieten arbeitet, um die Menschen mit vertrauenswürdigen Informationen über Polio zu versorgen, sagte gegenüber Global Citizen, sie sei wiederholt bedroht und angegriffen worden, weil sie für Polio-Impfungen geworben habe.
Sie hat in den letzten Jahren drei ihrer Kolleg*innen durch Angriffe auf Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens verloren und trauert besonders um einen Mann, dessen Aktivismus sie inspiriert hat.
"Ich sah die Leidenschaft in seinen Augen, wenn er über die Frauen sprach. Er sprach immer darüber, warum wir Frauen [Gesundheitshelferinnen] in den Innengebieten brauchen", sagte sie.
Karim sagte, er sei von den Taliban getötet worden, die glaubten, dass er für eine "westliche Agenda" eintrete. Ihr zufolge wurden mehrere andere Angriffe und Morde an medizinischem Personal von der lokalen Presse in Pakistan nicht gemeldet, da diese keine Nachrichten im Zusammenhang mit der Impfkampagne veröffentlichen wollte. Sie sagte, dass sie Angriffe oder Morde an Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens oft auf andere Gründe zurückführen, um eine Kontroverse zu vermeiden.
A polio vaccinator goes door to door to vaccinate children in Sultanabad, Karachi, Pakistan on Aug. 21, 2022.
Weibliches Gesundheitspersonal ist der Schlüssel zum Erfolg der Polio-Kampagnen, weil sie in einer Weise Zugang zu den Haushalten haben, wie es Männer nicht tun. In der pakistanischen Kultur ist es unwahrscheinlich, dass ein männlicher Gesundheitshelfer von einer Frau in ein Haus gelassen wird, erklärte Karim. Frauen sind daher eher bereit, anderen Frauen den Zutritt zu ihren Häusern zu gestatten, um die Anzahl der Kinder im Haushalt und deren Impfungen zu überprüfen.
Allerdings sind Gesundheitsaktivistinnen und -mitarbeiterinnen häufiger als ihre männlichen Kollegen von Belästigungen und Übergriffen betroffen. Karim sagte, dass weibliches Gesundheitspersonal routinemäßig belästigt wird, sei es weil sie jung oder Witwen sind. Neben dem Widerstand von Gemeindemitglieder*innen werden Gesundheitshelferinnen manchmal auch von männlichen Vorgesetzten belästigt.
"Es ist eine sehr schwierige Situation", sagte Karim und erklärte, dass Frauen oft keine andere Möglichkeit haben, Geld zu verdienen, als für Impfkampagnen zu arbeiten.
Trotzdem sei es besonders schwierig, Frauen als Gesundheitshelferinnen für Impfkampagnen in Stammesgebieten zu rekrutieren, erklärte Jaffari.
(L) Polio vaccination teams head out to their assigned communities in Karachi, Pakistan on Aug. 21, 2022. (R) A polio vaccinator collects the vaccine in her carrier before heading to a community.
"Es gibt Gebiete im Land, vor allem dort, wo die Krankheit gerade ausbricht, in denen es kulturell und sozial extrem schwierig ist, Mitarbeiterinnen zu rekrutieren", sagte Jafari. "Die Bedingungen sind sehr, sehr schwierig."
Laut Jafari prüfen die WHO und ihre Partner die Möglichkeit, Frauen aus diesen Communities, die bereits Zugang zu Haushalten haben – wie etwa traditionelle Geburtshelferinnen –, einzubeziehen und sie offiziell in Polio-Impfkampagnen zu integrieren.
Frauen wie Karim sind zwar am meisten gefährdet, wenn sie die Communities informieren, andere Gesundheitsfachkräfte schulen und Kampagnen durchführen, aber sie spielen eine Schlüsselrolle bei der Ausrottung der Kinderlähmung, da Vertrauen und Zugang entscheidend sind, um hohe Impfraten sicherzustellen.
Karim zufolge geben einige Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens aufgrund mangelnder Motivation und des Drucks, die Zielvorgaben zu erfüllen, absichtlich falsche Daten über die Anzahl der besuchten Haushalte oder der verabreichten Impfungen an, was es schwierig macht, sicherzustellen, dass jedes Kind in Pakistan gegen Polio geimpft ist.
A polio vaccination team checks for vaccination markings on children's fingers as they come across them playing on the street in Sultanabad, Karachi, Pakistan on Aug. 21, 2022.
In einem Dorf, in das sie im Rahmen einer Impfkampagne reiste, fand Karims Team fast 100 Kinder, die noch nie eine einzige Dosis des Polio-Impfstoffs erhalten hatten. Sie schätzte die Gesamtzahl der Kinder in dem Dorf auf 800 bis 900.
Jafari sagte, die WHO sei sich bewusst, dass es Gruppen von ungeimpften Kindern gebe, die Ausbrüche verursachten.
"Aus epidemiologischer Sicht ist es wichtig zu wissen, dass 13 der 14 Fälle in Pakistan aus einem Gebiet innerhalb eines Radius von 16 Kilometern stammen, es handelt sich also um eine hochgradig lokalisierte Krankheit", erklärte er und bezog sich dabei auf den Bezirk Nord-Waziristan in Khyber Pakhtunkhwa.
Der 14. Poliofall befindet sich im Bezirk Lakki Marwat, der ebenfalls in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa liegt, was zeigt, dass die Ausbreitung des Virus in Pakistan derzeit auf diese Region beschränkt ist, erklärte er.
Pakistan hat kürzlich eine landesweite Polio-Kampagne gestartet, die nach Angaben der WHO fast 43 Millionen Kinder betrifft. Die Kampagne wird sich auf alle Bezirke des Landes erstrecken und mit sechs Hochrisikobezirken im Süden Khyber Pakhtunkhwas beginnen, die restlichen Bezirke Pakistans werden kurz darauf folgen.
Laut Jafari bereitet die WHO eine Befragung aller Gesundheitsfachkräfte in Pakistan vor, die an den Polio-Impfkampagnen arbeiten, um deren Herausforderungen zu verstehen und sie besser unterstützen zu können.
Er betont, dass es trotz des jüngsten Anstiegs der Poliofälle im Land immer noch möglich ist, die Krankheit zu eliminieren.
"Nur weil wir einen Ausbruch sehen, bedeutet das nicht, dass das Programm komplett zurückgegangen ist", sagte er gegenüber Global Citizen. "Solange wir die traditionellen Polio-Hotspots in Pakistan und Afghanistan [unter strenger Überwachung] halten können, sind wir immer noch auf einer soliden Basis, um Polio zu stoppen."
Im April hat die GPEI einen Investitionsantrag gestellt, der 4,8 Milliarden US-Dollar (rund 4,98 Milliarden Euro) für die Umsetzung ihrer Strategie 2022-2026 vorsieht, mit der Polio weltweit endgültig ausgerottet werden kann.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1998 hat die GPEI durch ihre Arbeit schätzungsweise 16 Millionen Menschen vor Lähmungen und 1,5 Millionen Menschen vor dem Tod durch Polio bewahrt.
Auch wenn die Bekämpfung der Kinderlähmung in Pakistan aufgrund politischer, kultureller und anderer Probleme sehr komplex ist, sind die Stärkung der Polioüberwachungssysteme und die Gewährleistung einer hohen Durchimpfungsrate von entscheidender Bedeutung.
Dies wird dazu beitragen, nicht geimpfte Kinder zu identifizieren und sicherzustellen, dass die Gemeindemitglieder verstehen, wie wichtig es ist, ihre Kinder gegen Polio zu impfen. Dadurch können weitere Fälle verhindert werden und sichergestellt werden, dass die Kinder die bestmögliche Chance auf ein gesundes Leben haben.
Die Globale Initiative zur Ausrottung der Kinderlähmung (Global Polio Eradication Initiative, GPEI) ist eine Partnerschaft zwischen nationalen Regierungen, der WHO, Rotary International, den US Centers for Disease Control and Prevention, UNICEF, der Bill & Melinda Gates Foundation und Gavi, der Impfallianz.
In Pakistan setzt sich die GPEI dafür ein, dass jedes Kind gegen Polio geimpft wird und sammelt politische Zusagen, finanzielle Mittel und technische Unterstützung, um ihre Bemühungen um die Ausrottung der Krankheit zu unterstützen.
Das Ende der Kinderlähmung ist in Sicht, aber das Virus versucht alles, um sich weiter zu verbreiten. Die Serie "The Comeback We Never Wanted" befasst sich mit der Frage, wie und warum Polio-Ausbrüche in den letzten Jahren zugenommen haben. Sie geht auf Fragen im Zusammenhang mit dem Zugang zur Gesundheitsversorgung ein, beleuchtet die Auswirkungen von COVID-19, die Schwierigkeiten bei der Versorgung von Menschen in Konfliktgebieten und vieles mehr.
Offenlegung: Diese Serie wurde mit Mitteln der Bill & Melinda Gates Foundation ermöglicht.