Früher war Rashmi Misra Dozentin an einer Universität in Indien. Heute unterrichtet sie Mädchen, die ihre bisherigen Tage damit verbracht haben, in Abwässern auf der Straße zu spielen. Was sie dazu bewegt hat, ihren Job an der Universität an den Nagel zu hängen und stattdessen das Leben der Straßenmädchen zu verbessern? Ein einziger Tag.
Über ein Jahrzehnt lang hat Rashmi indischen Studenten Deutsch beigebracht. Ihr Ehemann war zu der Zeit ebenfalls Professor, allerdings am India Institute of Technology (IIT), eine der renommiertesten Unis in Delhi und in ganz Indien. Häufig besuchte Rashmi ihren Ehemann an seiner Uni, die absichtlich von hohen Mauern umgeben ist, damit die Professoren und Studenten nicht dem Anblick der umliegenden Slums ausgesetzt sind.
„Eines Tages lief ich an der Uni vorbei und sah diese kleinen Mädchen, die mitten im Abwasser auf der Straße spielten”, erzählt Rashmi Global Citizen.
Bei dem Anblick fiel ihr nur eine Frage ein: Warum sind diese Mädchen nicht in der Schule?
Als sie die Mädchen danach fragte, bekam sie zur Antwort: „Mensch! Weil doch nur Jungs zur Schule gehen!”. Für die Mädchen, die in ärmlichen Verhältnissen in einem Slum in Delhi aufwuchsen, war völlig klar, dass Schule und Bildung ein Privileg ist, das Mädchen vorenthalten wird - nur Jungs dürfen zur Schule gehen. Mädchen spielen im Abwasser.
Dieser Tag und dieser Moment ließ Rashmi nicht mehr los: „Ich war wie elektrisiert! Ich habe zwei Tage lang nicht geschlafen. Dann ging ich zurück zu den Mädchen, die weiterhin auf der Straße mitten im Abwasser spielten, und fragte sie: ‚Was haltet ihr davon, auch zur Schule zu gehen?"
Zu Beginn waren es nur fünf oder sechs Mädchen, die Rashmi jeden Morgen abholte und zu ihrem Haus brachte, um ihnen Englisch und Mathe beizubringen. Bei der Anzahl blieb es aber nicht lange. Bald waren es 10, dann 15, dann 20 Kinder - Mädchen und Jungs.
Und die Zahl der Kinder, denen Rashmi zu einer Schulbildung verhilft, steigt noch immer. Denn schon recht bald ging Rashmi einen Schritt weiter und gründete die Organisation Vidya, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Kinder, die in armen Verhältnissen aufwachsen, zu einer Schulbildung zu verhelfen.
Von dem Tag an, an dem Rashmi die Mädchen in der Straße direkt neben dem IIT im Abwasser spielen sah, bis heute konnte sie bereits drei erfolgreiche Schulen in Goa, Mumbai und Delhi gründen.
Und einige von Rashmis Schülern sind nach dem Schulabschluss sogar weiter aufs IIT gegangen, um auch noch einen Uni-Abschluss zu absolvieren. Alle ihre Schüler arbeiten wirklich hart und träumen davon, später in verschiedenen Ingenieursbereichen arbeiten zu können.
An einen Schüler kann sich Rashmi besonders gut erinnern. Der Junge arbeitete nebenher als Touristen-Führer für das Himalaya Gebirge. Er träumte davon, eines Tages Ingenieur zu werden. Rashmi sagte ihm, dass er dafür ganze vier Jahre zur Uni gehen müsste. Doch er war überzeugt, es in zwei Jahren schaffen zu können.
Heute kann sich derselbe Junge vor Angeboten vom MIT und Firmen im Silicon Valley kaum retten. Doch viel wichtiger und schöner an der Geschichte ist, dass er nun das zurückzahlt, was er selbst erhalten hat: Kindern aus seiner Heimat ermöglicht er es nun, selbst Vidya zu besuchen. Und die, für die der Weg zu Rashmis Schule zu weit ist, können seine eigene gegründete Schule besuchen, die er in seinem Heimatdorf bauen ließ.
Als sich immer weiter rumsprach, dass Schüler der Vidya Schulen im späteren Leben so erfolgreich waren, wollten auch die Eltern ihre Kinder zu Vidya Schulen schicken, die finanziell wesentlich besser gestellt waren und nicht in Slums wohnten.
Rashmi kämpfte mit dieser Idee. Auf der einen Seite wollte sie kein Kind vom Lernen ausschließen. Auf der anderen Seite wollte sie, dass die Schule eben jener Ort bleibt, an dem sich Kinder aus ärmlichen Verhältnissen sicher fühlen und offen und frei ihre Meinungen und Ideen äußern können. Sie wusste, dass Kinder, die in Konfliktregionen wohnen oder in extremer Armut aufwachsen, besondere Unterstützung beim Lernen brauchten. Genau aus diesem Grund hat sie sich dazu entschlossen, bei ihrer eigentlichen Idee zu bleiben und die Schultüren nur für Kinder aus den Slums zu öffnen.
Thrilled to have @Vidya_India founder, Rashmi Misra, as the inaugural presentation of our in-office Impact Series! pic.twitter.com/wkbnUUX2Df
— GlobalCitizenImpact (@GlblCtznImpact) March 22, 2016
Rashmi ist klar, dass ein Schulbesuch für die vielen Kinder aus den Slums nicht alles von heute auf morgen verändern kann. Viele von ihnen müssen weiterhin in Slums oder auf der Straße leben, auf dem Boden schlafen oder sich das Zimmer mit mehreren anderen teilen. Doch Rashmi versucht alles, um ihnen zu helfen. Wenn die Kinder zum Beispiel Probleme haben, zur Schule zu kommen oder dem Unterricht zu folgen, stellen die Vidya Schulen ihnen einen Tutor zur Seite.
Und die Vidya Schulen bringen den Kindern nicht nur Lesen und Schreiben bei. Dank der Gründerin stehen auch grundlegende Werte auf dem Lehrplan. Werte wie zum Beispiel Global Citizenship - das Gefühl, dass alle Menschen auf der Welt zusammengehören - werden in den Vidya Schulen bereits früh vermittelt, weil Rashmi davon überzeugt ist, dass diese Werte die Welt verändern können:
„Die Welt wäre ein absolut wundervoller Ort, wenn jedes Kind stolz auf seine Heimat und sich selbst wäre und es gleichzeitig als Ziel vor Augen hätte, zum Wohlergehen aller Menschen auf der Welt beitragen zu wollen”, sagt Rashmi.
Bis heute halten Rashmis Schulen an ihrem Grundgedanken fest: dass die Schulen ein Zufluchtsort für die Kinder sind, die auf der Straße und unterhalb der Armutsgrenze leben. Und das genau diese Kinder hier eine der besten Schulbildungen in Indien und damit eine echte Chance auf eine bessere, selbstbestimmte Zukunft erhalten.
Und letztendlich sind Rashmis Schulen auch der Versuch, über qualitative Bildung die Schere zwischen arm und reich zu schließen: „Indien ist das Land der Gegensätze. Hier leben sehr reiche und sehr arme Menschen nebeneinander. Aber Vidya ist die Brücke, die arm und reich zusammenbringt.”