Tausende Menschen, zumeist aus krisengeplagten Ländern des Nahen Ostens wie Irak, Syrien, Jemen und Afghanistan, sind im November 2021 an der Grenze zwischen Polen und Belarus gestrandet. Sie suchen Schutz in der Europäischen Union (EU) und versuchen unter unvorstellbaren Bedingungen in behelfsmäßigen Lagern inmitten der dichten Wälder zu überleben. Ihr Ziel: Die Grenze überqueren und in die EU einreisen.
Gleichzeitig wurde von gewaltsamen Zusammenstößen berichtet. Polnische Grenzsoldaten schlugen Menschen an der Grenze mit Tränengas und Wasserwerfern zurück, die sie angeblich mit Steinen beworfen hätten.
Menschen sind gestorben, als sie wegen der dortigen Gewaltexzesse, den harten Bedingungen und unter anderem bei dem Versuch, einen Fluss nach Polen zu überqueren, zu fliehen versuchten.
Um einen dringend notwendigen Schutz für die Menschen vor Ort zu organisieren, forderten das UN-Flüchtlingshilfswerk und das Amt des Hochkommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen, dass die Menschenrechte im Einklang mit dem Internationalen Recht für Geflüchtete unbedingt gewahrt werden müssen. Das bedeutet vor allem, dass sie die Möglichkeit haben sollten, auch einen Asylantrag zu stellen.
Genau dagegen wehren sich die polnischen Behörden und die Europäische Union (EU). Die Geflüchteten sollen nicht nach Polen und die EU einreisen dürfen, wie zuletzt auch der geschäftsführende deutsche Außenminister Heiko Maas erklärt hat. Die EU argumentiert, dass der autoritäre Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, es bewusst zugelassen hat, dass sich Geflüchtete an der dortigen Grenze versammeln. Vielmehr benutze er die Menschen, um die EU unter Druck zu setzen, die zuletzt die wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen das Land in Osteuropa verstärkt hat.
Menschenleben werden so zum Spielball der Machtpolitik zwischen einem Despoten und der Europäischen Union, die noch immer keine funktionierende gemeinsame Migrationspolitik hat.
Dies sind die wichtigsten Fakten zur humanitären Krise an der polnisch-belarussischen Grenze:
Zwischen 3.000 und 4.000 Geflüchtete und Asylsuchende sitzen an der Grenze zwischen Belarus und Polen fest und kämpfen bei eisigen Temperaturen ums Überleben.
Mindestens 11 Menschen sind bisher gestorben, darunter auch Kinder, die erforen sind. Die Versorgung mit lebenswichtigen Hilfsgütern ist verzögert.
Das Gebiet ist für Hilforganisationen und Journalisten weitestgehend gesperrt.
Die Vereinten Nationen haben dazu aufgerufen, internationales Recht zu wahren und den Menschen an der Grenze das Recht einzuräumen, einen offiziellen Geflüchtetenstatus zu beantragen.
Die Situation ist sehr komplex. Wir fassen für dich zusammen, wie sich die Situation entwickelt hat und was sie für die Menschen in dieser humanitären Notlage bedeutet.
Welche Rolle spielt Belarus in dieser Krise?
Belarus, auch Weißrussland genannt, liegt östlich von Polen und gehörte wie andere osteuropäische Staaten der früheren Sowjetunion an. Der jüngste Konflikt zwischen der EU und Belarus begann im August 2020, als sich der belarussische Präsident Lukaschenko für eine sechste Amtszeit wiederwählen ließ. Internationale Beobachter waren sich einig, dass dies vor allem an umfassenden Wahlmanipulationen lag. Auch die Oppositionsparteien sprachen offen von Wahlfälschungen. Die führende Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja lebt seitdem im politischen Exil in Litauen.
Von dort versuchte sie die europäische Gemeinschaft zur Unterstützung der Opposition zu bewegen. Das Ergebnis der manipulierten Wahl löste in ganz Belarus massive Pro-Demokratie-Proteste aus, an denen sich Tausende von Menschen beteiligten. Sie ebbten ab, als sie gewaltsam von der Polizei niedergeschlagen wurden. Als Reaktion auf diese Ereignisse verhängten die USA und die EU wirtschaftliche und politische Sanktionen gegen das Land. Der Europäische Rat erklärte, dass die sogenannten Wahlen, die Lukashenko an der Macht hielten, weder "frei noch fair" waren.
Die Sanktionen wurden im Mai 2021 noch einmal verschärft, als ein Passagierflugzeug mit dem regimekritischen belarussischen Journalisten Roman Protasewitsch an Bord auf dem Weg von Griechenland nach Litauen zwangsweise nach Minsk, der Hauptstadt von Belarus, umgeleitet wurde. Dort wurde er inhaftiert und steht seitdem unter Hausarrest. In der Folge stoppte die EU nicht nur den Handel mit den wichtigsten Gütern des Landes, sondern verbot es auch belarussischen Flugzeugen, den EU-Luftraum zu überfliegen oder auf EU-Flughäfen zu landen.
In Anbetracht dieser Entwicklungen gehen Expert*innen der Region davon aus, dass die Geflüchteten an der Grenze zu Polen vom belarussischen Regime als "politische Waffe" eingesetzt werden. So will sich die autoritäre Regierung für die Sanktionen rächen, die gegen das Land verhängt wurden. Nach den ersten Meldungen von der Grenze begannen Medien darüber zu berichten, wie die Geflüchteten aus Ländern wie Irak und Syrien es überhaupt nach Belarus geschafft haben. Demnach habe die belarussische Regierung Menschen, die vor der Situation in ihrem eigenen Land fliehen wollten, nach Minsk eingeladen, wo sie in Hotels untergebracht und mit Kurzzeitvisa ausgestattet wurden. Die dortigen Behörden brachten sie von dort an die Grenze, damit sie angeblich in der EU Asyl beantragen können.
Die belarussischen Behörden bestreiten dies, aber Artyom Shraibman, ein in Minsk ansässiger politischer Analyst, erklärte, dass Lukaschenko "seit vielen Jahren damit gedroht" habe, genau dies zu tun.
"Jedes Mal, wenn die EU ihn kritisierte, jedes Mal, wenn der Westen ihn kritisierte, wiederholte er dieselbe Argumentationskette: 'Ihr wisst mich nicht zu schätzen; ich verteidige euch vor illegalen Migranten, ich verteidige euch vor dem Drogenhandel, ich bewache eure Ostgrenze und ihr seid nicht dankbar'", erklärte Shraibman.
Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass die harte Grenzpolitik der EU und die Tatsache, dass sie in der Vergangenheit immer wieder Vereinbarungen mit Ländern abgeschlossen hat, um Geflüchtete fernzuhalten, ebenfalls eine Mitschuld an der Situation trägt. Anna Iasmi Vallianatou, Juristin und Mitarbeiterin der Denkfabrik für internationale Angelegenheiten Chatham House, argumentiert: "Solange sich die EU-Länder nicht an ihre Asylgesetze halten und Geflüchteten weiterhin mit Feindseligkeit und Gewalt begegnen, werden Länder wie Belarus, Marokko und die Türkei weiterhin die Angst vor Migration ausnutzen."
Was bedeutet das für die Menschen an der Grenze?
Im Streit zwischen Belarus und der EU sind nun bis zu 4.000 Menschen in einer verzweifelten und zunehmend gefährlichen Situation geraten, die besonders aufgrund der Kälte dramatisch ist. Das hat bereits zu mehreren Tragödien geführt. Mitte November versammelten sich Menschen auf einem kleinen Friedhof in Polen, um den Leichnam des 19-jährigen Syrers Ahmad Al Hasan zu bestatten, der bei dem Versuch, den Fluss Bug entlang der polnischen Grenze zu überqueren, ums Leben gekommen war. Berichten zufolge hatte er sich zuvor in einem Flüchtlingslager in Jordanien aufgehalten und gehofft, in der EU in Sicherheit zu gelangen und sein Studium fortzusetzen, das er in dem Lager begonnen hatte.
Al Hasan ist einer von mindestens elf Menschen, die bisher bei dem Versuch, Polen zu erreichen, ums Leben gekommen sind. Erschwerend kommt hinzu, dass Hilfsorganisationen und Journalist*innen in der Sperrzone entlang der Grenze nicht zugelassen sind.
Am 17. November kündigte die EU an, dass sie Lebensmittel und Decken im Wert von 700.000 Euro an die Menschen an der Grenze schicken werde. Gleichzeitig hat Polen über 20.000 Grenzpolizist*innen eingesetzt, die militärischer unterstützt werden. Sie haben ein klares Ziel: Alle Geflüchtete, denen der Grenzübertritt gelingt, mit massiver Gewalt zurückdrängen. Die beunruhigende Situation hat Kritik von internationalen humanitären Organisationen hervorgerufen.
Marta Szymanderska von Grupa Granica, einem in Polen ansässigen Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, die auf die entstehende humanitäre Krise reagieren, sagte:
"Die Anwendung von Gewalt [durch Polen] ist völlig ungerechtfertigt, weil es rechtliche Verfahren gibt, die von Anfang an angewendet werden sollten. Das Vorgehen der polnischen Streitkräfte ist nicht nur illegal, sondern auch unmenschlich."
Angesichts der Verzögerungen bei der lebenswichtigen humanitären Hilfe haben Menschen vor Ort begonnen, sich zu engagieren. Die BBC berichtet, dass ein Netzwerk von Bewohner*innen, die auf der polnischen Seite in der Sperrzone leben, freiwillig helfen und Lebensmittel und sogar lebensrettende medizinische Versorgung bereitstellen.
Eine Lösung dieser Krise ist nicht in Sicht. Noch immer werden Geflüchtete nach Belarus geflogen, die das gleiche Schicksal ereilen kann. Die Zahl der Toten könnte in den kommenden Wochen weiter steigen. Währenddessen spricht die polnische Regierung davon, Europa verteidigen zu müssen. Das Schicksal der Menschen ist zum Spielball von Machtpolitik geraten.
Werde aktiv und fordere die politischen Entscheidungsträger*innen auf, Armut zu bekämpfen, lebensrettende humanitäre Hilfe für die Bedürftigen zu leisten und die Ursachen der von Flucht & Vertreibung anzugehen.