Inzwischen ist uns allen klar, dass die Pandemie nicht vor Grenzen halt macht und ein gerechter Zugang zu COVID-19-Impfstoffen für alle, überall auf der Welt, gewährleistet werden muss. Warum passiert das dann noch nicht?
Viele der einkommensstarken Länder haben sich einen größeren Vorrat an Impfdosen gesichert, um ihre eigene Bevölkerung vollständig impfen zu können - in einigen Fällen sogar mehr als das, was die eigenen Landsleute benötigen.
Auch Deutschland hat sich für 2021 bereits mehr als 270 Millionen Dosen der vier in der EU zugelassenen Impfstoffe vertraglich gesichert. Diese Menge reicht aus, um 150 Millionen Menschen zu immunisieren. Das ist fast doppelt so viel wie die eigene Bevölkerung. Sollten im Laufe des Jahres weitere Impfstoffe zugelassen werden, könnten mehr als 50 Millionen Impfdosen der Hersteller Cuervac und Sanofi/GSK hinzukommen.
Im Gegensatz dazu können sich viele einkommensschwache Länder die Preise für die COVID-19-Impfstoffe nicht leisten. Schätzungen zufolge werden Länder mit niedrigem Einkommen vor 2023 keine Herdenimmunität erreichen.
Das sind schreckliche Zukunftsaussichten – doch wohlhabende Staaten könnten das verhindern. Einige Länder haben sich bereits dazu verpflichtet, sichere und wirksame Impfdosen an Länder mit mittlerem und geringem Einkommen abzugeben. Das geschieht über COVAX, die Impfsäule des Access to COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A), einer globalen Initiative, die 2020 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der französischen Regierung und der EU-Kommission gegründet wurde, um einen gerechten und fairen Zugang zu COVID-19-Impfstoffen sicherzustellen.
Global Citizen sprach mit Eloise Todd, Mitbegründerinnen des Pandemic Action Network über die Bedeutung des Teilens von Impfstoffdosen, um COVID-19 ein für alle Mal zu überwinden. Das Netzwerk besteht aus rund 100 Organisationen, die daran arbeiten, diese Pandemie zu beenden und weitere zu verhindern. Todd betonte, wie wichtig es ist, das Horten von Impfstoffen zu vermeiden, um langfristig eine gerechtere Welt zu schaffen.
Können Sie uns mehr über den aktuellen Stand der weltweiten Impfstoffverteilung erzählen?
Eloise Todd: Unser Problem ist, dass wir genug Impfstoffe zur Verfügung haben, doch sie befinden sich alle in den Händen der reichen Länder. Wir benötigen also dringend die überschüssigen Impfstoffe, die für die Menschen in reichen Ländern nutzlose sind.
Die EU hat beispielsweise 1,9 Milliarden bestätigte Impfstoffdosen und haben die Möglichkeit, noch mehr Dosen zu erhalten. Großbritannien hat fast eine halbe Milliarde Dosen bestätigt. Selbst wenn es sich um doppelte Impfdosen handeln würde, wäre das mindestens drei- bis viermal mehr, als die Bevölkerung braucht. Deshalb fordern wir die Regierungen dazu auf, ihren Vorrat abzugeben, und zwar kostenlos — nicht als offizielle Entwicklungszusammenarbeit. Es muss außerdem so schnell wie möglich geschehen, damit COVAX planen kann. Idealerweise sollten alle durch COVAX kanalisiert werden, da die Initiative am besten dazu geeignet ist, die Impfdosen auf der ganzen Welt zu verteilen.
Warum müssen die Impfstoffe über COVAX abgegeben werden?
Dazu gibt es unterschiedliche Gründe. Erstens benötigen wir jemanden, der einen Überblick darüber hat, was vor sich geht, wo es Lücken gibt und was gebraucht wird. Als multilateraler Mechanismus wurde COVAX eingerichtet, um Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu beliefern.
Zweitens gibt es inzwischen immer mehr Anzeichen für Impfdiplomatie. Das heißt, dass einige Länder ihren engsten Verbündeten und Nachbarn Impfdosen zur Verfügung stellen. Das ist manchmal legitim, weil es auch dort weiterhin Bedarf gibt. Aber wenn wir nach einer gerechten globalen Antwort suchen, dann sollten wir uns auch an das halten, was wir unterzeichnet haben - und das bedeutet, dass die Dosen zentral verteilt und diejenigen als erstes erreicht werden, die es am dringendsten brauchen.
Zudem ist es weiterhin oberste Priorität, dass sowohl der ACT-A als auch die Impfsäule COVAX vollständige Finanzierung erhalten. Die Abgabe von Impfdosen ist eine wichtige Ergänzung zu dieser Ressourcenmobilisierung, doch die Regierungen müssen in ihre Taschen greifen und die doch relativ kleinen Beträge bereitstellen, die zur vollständigen Finanzierung [von ACT-A] erforderlich sind. Es handelt sich hierbei um Milliardenbeträge, was eine Menge Geld zu sein scheint, aber nichts im Vergleich zu den Billionen ist, die wir für unsere eigenen Länder ausgeben, wenn wir sie gegen Kaution freikaufen müssen. Angesichts der Tatsache, dass wir wissen, dass es mindestens eine Milliarde - manche sagen 1,3 Milliarden Dosen allein im Jahr 2021 - gibt, ist es Wahnsinn, sich vorzustellen, dass sie in einem Lagerhaus liegen und unwirksam werden. Wir müssen sie dorthin bringen, wo sie gebraucht werden.
Was würden sie den Staats- und Regierungschef*innen sagen, die beschlossen haben, ihre eigene Bevölkerung vorzuziehen, bevor sie die Abgabe von Impfdosen in Betracht ziehen?
Das ist eine schwierige Frage, denn um ehrlich zu sein, haben Regierungen das Mandat, sich um ihre eigene Bevölkerung zu kümmern. Was sie jedoch nicht tun sollten, ist, ein Vielfaches von dem zu kaufen, was sie benötigen. Sie wissen, dass sie bereits genug COVID-19-Impfstoffe haben, also sollten sie den Überschuss an COVAX und andere Länder abgeben. Wir müssen natürlich anerkennen, dass Regierungen eine Verantwortung für ihre eigene Bevölkerung haben, aber es gibt keinen Grund, Impfstoffe zu horten — genauso wenig wie zu warten, bis 50, 60 oder 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, bevor sie den Überschuss weggeben. Dieses Verhalten ist nicht sinnvoll.
Es gibt zwar einige Nuancen und politische Realitäten zu beachten, aber es ist verrückt, dass wir 1,3 Milliarden überschüssige Dosen auf der Welt in den reichsten Ländern haben. Letztendlich sind auch nicht alle diese Dosen dort angekommen, wo sie gebraucht werden... Wenn wir in Zukunft eine ähnliche Situation haben, bräuchten wir eine viel strukturiertere Reaktion. Wir müssen sicherstellen, dass das System so aufgebaut ist, dass reiche Länder nicht an erster Stelle gesetzt werden, sich kein Land an die erste Stelle setzt und es eine begrenzte Anzahl an Dosen geben sollte, die man kaufen kann. Denn jetzt bringt es die Unternehmen in eine schwierige Lage, und COVAX und ACT-A landen im Hintertürchen und müssen aufholen, um die gerechte Antwort zu liefern, zu der sich die Regierungen verpflichtet haben. Deshalb müssen die Staats- und Regierungschef*innen einhalten, was sie versprochen haben.
Wie bestimmen wir die Anzahl der Dosen, die Länder mit hohem Einkommen abgeben sollen?
Derzeit gibt es keine Faustregeln. Man könnte argumentieren, dass es eine Art kleinen Überschuss geben darf, der für unvorhergesehene Ereignisse und für mögliche Auffrischungsimpfungen angemessen wäre. Aber man kann Impfstoffe horten, so viel man will; wenn sie nicht gerecht verteilt werden, schadet man damit nur der eigenen Wirtschaft und den eigenen Leuten.
Je länger sich COVID-19 ausbreitet, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Arten von Varianten entwickeln, die tatsächlich nicht auf Impfstoffe ansprechen könnten. Je länger das so weitergeht, desto mehr werden uns die Mutationen von dem entfernen, wo wir jetzt sind, was es immer schwieriger macht und uns ständig zu einer Aufholjagd zwingt. Der Gedankensprung, um den wir jeden bitten, ist also, Dosen abzugeben, um auch den eigenen Leuten zu helfen... Es ist in vielerlei Hinsicht kontraintuitiv, weil jede*r seine eigenen Leute geschützt sehen will, aber wenn wir es nicht fair und gleichmäßig machen, könnten wir in diesem ewigen Kreislauf bleiben, in dem wir alle schon sehr lange sind. Und offen gesagt, werden wir so weitermachen, wenn wir keine gerechte Antwort finden.
COVAX hat einen One-Pager, der besagt, dass Länder, die Impfstoffdosen abgeben, den COVAX-Richtlinien folgen sollten. Dazu gehört, COVAX so schnell wie möglich zu benachrichtigen und über die Initiative zu liefern, um einen Überblick zu behalten, wohin die Dosen gesendet wurden. COVAX und Gavi (die Impfallianz) sind am besten aufgestellt und haben die meiste Erfahrung bei der Bereitstellung von Impfstoffen in großem Umfang in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Wir brauchen sie, um diese Aufgabe weiterhin zu erfüllen.
Pandemic Action Network arbeitet mit Global Citizen zusammen, um sicherzustellen, dass wir ACT-A in diesem Jahr vollständig finanzieren und die Abgabe von Impfstoffen gewährleistet wird. Wir wollen so viele Menschen wie möglich erreichen, aber auch einen Fahrplan zur kollektiven Immunität erarbeiten, damit die ganze Welt eine Abdeckung von 80 Prozent erreichen kann - nicht nur die reichen Länder.
Was benötigen wir, um das innerhalb des nächsten Jahres zu erreichen?
Wir müssen ACT-A vollständig finanzieren. Bis jetzt fehlen uns 19 Milliarden US-Dollar (rund 15,68 Milliarden Euro), davon sind zwei Milliarden US-Dollar für Impfstoffe. Im Juni gibt es nochmal einen separaten Moment für Zusagen an COVAX.
Zudem sind auch die anderen ACT-A-Säulen wichtig. In der Säule zur Stärkung der Gesundheitssysteme fehlen fast acht Milliarden US-Dollar. Je mehr die Gesundheitssysteme gestärkt werden, desto einfacher ist es, die Impfstoffe an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu liefern. Es gibt große Lücken bei der Diagnostik und Therapeutika und es sollte keine Art falscher Wettbewerb zwischen diesen beiden Bereichen bestehen. Wenn nämlich die Impfstoffe langsamer ausgerollt werden als gewünscht, dann brauchen wir eben noch mehr Tests, mehr Diagnostik.
Wenn wir uns auch auf den Fahrplan der 80-prozentigen Abdeckung fokussieren, dürfen wir die anderen Elemente nicht außer Acht lassen. Wir streben eine vollständige Finanzierung von ACT-A an, hoffentlich bis zum globalen Gesundheitsgipfel im Mai. Wenn das nicht ausreicht, erwarten wir, dass der G7-Gipfel und der COVAX-Gipfel im Juni genau das tun werden.
Dieses Interview wurde zur besseren Verständlichkeit bearbeitet und gekürzt.
Wenn auch du deinen Teil dazu beitragen möchtest, dass es eine gerechte Verteilung der COVID-19-Impfstoffe gibt, dann fordere hier die Staats- und Regierungschef*innen auf, sich für diese Ziele einzusetzen.