Die russische Invasion in der Ukraine hat das globale Nahrungsmittelsystem auf so dramatische Weise destabilisiert, dass es bis zum Ende des Jahres einen "Hungersturm" auslösen könnte. Das steht im neuen Bericht von Eurasia Group, Gro Intelligence, EY und DevryBV Sustainable Strategies.
Der Bericht mit dem Namen "Food Security and the Coming Storm" beschreibt, wie der Krieg zur Aussetzung der landwirtschaftlichen Produktion in der Ukraine und in Russland geführt hat. Die beiden Länder sind zwei der weltweit führenden Lebensmittelexporteure, die für 29 Prozent der weltweiten Weizenexporte, 33 Prozent der Gerstenexporte, 17 Prozent der Maisexporte und einen erheblichen Anteil an Speiseöl verantwortlich sind. Weit über die Grenzen des Konflikts hinaus kämpfen Landwirt*innen auch in anderen Ländern derzeit mit steigenden Preisen für wichtige Betriebsmittel wie Dünger, was zu starken Ernteeinbußen führen könnte.
Diese Einschnitte bei der Nahrungsmittelproduktion haben dazu geführt, dass die Preise in den Lebensmittelläden weltweit gestiegen sind. Das belastet die alltäglichen Ausgaben, die durch die Inflation und die COVID-19-Pandemie bereits angespannt sind. In manchen Regionen auf der Welt sind Lebensmittel aufgrund von Engpässen nicht mehr erhältlich. Wenn die Staats- und Regierungschef*innen keine Maßnahmen ergreifen, um diese bedrohlichen Trends einzudämmen, werden Hunger und Armut gefährliche Ausmaße annehmen und die globale Ungleichheit immens verschärfen.
"Von allen Folgen des Krieges durch Russland in der Ukraine wird die Auswirkung auf die weltweite Nahrungsmittelversorgung nicht annähernd genügend beachtet", sagt Ian Bremmer, Präsident und Gründer der Eurasia Group und GZERO Media. "Die Vermeidung einer weit verbreiteten Hungerkrise in den nächsten Monaten muss ganz oben auf der globalen multilateralen Agenda stehen."
Der Bericht deckt ein weites Feld ab: Er untersucht verschiedene Szenarien für den Krieg im Laufe des Jahres, dokumentiert die laufenden und erwarteten Auswirkungen auf das Ernährungssystem, zeigt auf, wie die einzelne Länder betroffen sein könnten, und erläutert mit großer Klarheit, wie bestimmte politische Maßnahmen den "Hungersturm" abschwächen können. Wenn der Krieg friedlich zu Ende ginge und die Länder die im Bericht empfohlenen Maßnahmen ergreifen würden, könnten Hunger und Armut bis Ende des Jahres zurückgehen.
Da man sich darauf aktuell leider nicht verlassen kann, muss die globale Hungerkrise als wichtiger Punkt beim G7-Gipfel Ende Juni diskutiert werden. Die G7-Staaten stehen in der Verantwortung, konkrete Maßnahmen zu treffen und Gelder bereitzustellen, um auf die aktuelle Krise zu antworten und langfristige Maßnahmen zur Stärkung der Nahrungsmittelsysteme insbesondere in den ärmsten Regionen weltweit einzuleiten.
Den vollständigen Bericht kannst du auf der Seite der Eurasia Group lesen. Die fünf wichtigsten Erkenntnisse haben wir hier zusammengefasst:
1. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent wird die Zahl der Menschen, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, bis Ende des Jahres um mindestens 142 Millionen steigen.
Die Autor*innen des Berichts sagen voraus, dass die russische Invasion in der Ukraine entweder ein langwieriger kriegerischer Konflikt bleiben oder sich zu weiteren Überraschungsangriffen ausweiten werde. Beide Szenarien hätten verheerende Folgen für das globale Ernährungssystem. Die Forscher*innen gehen davon aus, dass die Zahl der Menschen, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, aufgrund der Auswirkungen des Krieges bis November zwischen 142 Millionen und 243 Millionen ansteigen wird, wodurch sich die Gesamtzahl der Menschen, die nicht genug zu essen haben, weltweit auf 1,8 Milliarden erhöht.
"Die Menschen, die am stärksten gefährdet sind, in eine ernsthafte Hungersnot abzurutschen, leben überwiegend in Ländern, deren Regierungen nicht in der Lage sind, Lebensmittel wirksam zu subventionieren – wie Afghanistan, Mali, Haiti, Bangladesch, Jemen und Sudan", so Ertharin Cousin, ehemalige Direktorin des Welternährungsprogramms.
2. Die Zahl der von einer Hungersnot bedrohten Menschen könnte um bis zu 6,9 Millionen steigen.
Das Welternährungsprogramm definiert Hungersnot folgendermaßen: "Wenn Unterernährung weit verbreitet ist und wenn Menschen aufgrund des fehlenden Zugangs zu ausreichender, nahrhafter Nahrung zu verhungern beginnen".
Bereits jetzt sind 49 Millionen Menschen weltweit von Hungersnot bedroht. Durch den Krieg werden bis Ende des Jahres wahrscheinlich weitere 3,5 bis 6,9 Millionen Menschen davon betroffen sein.
3. Weitere 201 Millionen Menschen könnten von extremer Armut betroffen sein.
Derzeit gibt es etwa 689 Millionen Menschen, also fast zehn Prozent der Weltbevölkerung, die in extremer Armut leben.
Während der Krieg die Ukraine verwüstet und verheerende Auswirkungen auf das globale Nahrungsmittelsystem hat, wird eine große Zahl von Menschen in extreme Armut gedrängt. In extremer Armut leben alle Menschen, die mit weniger als 1,90 US-Dollar (rund 1,77 Euro) pro Tag auskommen müssen. Die Autor*innen schätzen, dass bis zum Ende des Jahres mindestens 103 Millionen und bis zu 201 Millionen Menschen mehr von extremer Armut betroffen sein werden.
4. Die Lebensmittelpreise könnten weltweit um bis zu 22 Prozent steigen.
Landwirt*innen sind auf Düngemittel angewiesen, um eine gute Ernte zu erzielen. Wenn die Preise für Düngemittel steigen, werden diese Kosten oft an die Verbraucher*innen weitergegeben. Schon vor dem Krieg in der Ukraine waren die Düngemittelpreise infolge der Pandemie um 230 Prozent gestiegen.
Auch die Energiepreise werden voraussichtlich weiter steigen, da sich die europäischen Länder auf die Einfuhrbeschränkungen aus Russland einstellen.
Nun wird der Krieg diese Betriebsmittel nur noch teurer machen, da das Angebot als Reaktion auf die zunehmende Isolierung Russlands, dem weltweit führenden Exporteur von Düngemitteln und einem führenden Exporteur fossiler Brennstoffe, schrumpft.
Diese Auswirkungen werden die Betriebskosten der Landwirt*innen in die Höhe treiben und gleichzeitig ihre Ernten schmälern, wenn sie Schwierigkeiten haben, genügend Dünger und Treibstoff zu bekommen. Dem Bericht zufolge könnten die Lebensmittelpreise aufgrund dieser und anderer kriegsbedingter Faktoren zwischen acht und 22 Prozent steigen. Die stärksten Preiserhöhungen werden im Nahen Osten und in Afrika zu spüren sein – zwei Regionen, die stark von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus der Ukraine und Russland abhängig sind.
5. Der "Hungersturm" kann verhindert werden, wenn wir jetzt Maßnahmen ergreifen.
Ein katastrophaler Anstieg des Hungers ist vermeidbar. Im Bericht wird argumentiert, dass jetzt Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die weltweite Nahrungsmittelversorgung zu stabilisieren, einen Anstieg der Armut zu verhindern und die globale Ernährungssicherheit zu gewährleisten.
Der Vorschlag des Berichts ist folgendermaßen: Kurzfristig müssen sich die Länder für einen Waffenstillstand und eine vereinbarte Friedensregelung einsetzen, um weitere Eskalationen und weiteres Leid in der Ukraine zu verhindern. Während die diplomatischen Bemühungen auf der ganzen Welt fortgesetzt werden, müssen die Staats- und Regierungschef*innen auch die Produktion und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln sowohl in der Ukraine als auch in Russland erleichtern.
Die Landwirt*innen in der Ukraine müssen vor Gewalt geschützt werden und die Exporteure des Landes brauchen Zugang zum Schwarzen Meer, damit sie ihre Handelsanforderungen erfüllen können. Ebenso sollten von den Sanktionen gegen Russland Lebensmittel und landwirtschaftliche Betriebsmittel ausgenommen werden.
Länder wie China und Indien, die begonnen haben, ihre Exporte zu beschränken, sollten dafür sorgen, dass der Handel offen bleibt, damit sich die Lebensmittelpreise stabilisieren und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln steigt. Humanitäre Hilfe sollte eingesetzt werden, um sicherzustellen, dass multilaterale Organisationen wie das Welternährungsprogramm (WFP) die am meisten gefährdeten Regionen unterstützen können.
"Während wir gemeinsam die unmittelbaren Auswirkungen dieser Krise auf die Lebensmittelsicherheit und die Ernährung angehen, dürfen wir nicht die Notwendigkeit aus den Augen verlieren, die langfristigen, systematischen Ungleichheiten anzugehen, die diese Krise für so viele Länder mit niedrigem Einkommen so gefährlich gemacht haben", sagt Gargee Ghosh, Präsidentin für globale Politik und Interessenvertretung bei der Bill and Melinda Gates Foundation. "Es ist zwingend notwendig, die Widerstandsfähigkeit gegenüber solchen Schocks zu verbessern, indem wir die Investitionen in die langfristige landwirtschaftliche Entwicklung und nahrhafte Nahrungsmittelsysteme erhöhen, insbesondere in den ärmsten und gefährdetsten Ländern."
Wenn auch du aktiv gegen die Hungerkrise vorgehen willst, dann fordere die Staats- und Regierungschef*innen beim G7-Gipfel auf, konkrete Maßnahmen zu verabschieden, um das globale Nahrungsmittelsystem zu stabilisieren.