Die 28-jährige Amira El-Sayed lebte ein Jahr lang in der 'gefährlichsten Stadt der Welt für Frauen': Kairo. Im exklusiven Interview mit Global Citizen verrät sie, wie es ihr in der Zeit ergangen ist. 

Amira, wo fängt für dich sexuelle Belästigung an?

Für mich fängt sie da an, wo ich aufgrund meiner Rolle als Frau bewertet werde. Das kann ein Blick sein, ein Geräusch, eine Geste oder eine Berührung. In Kairo ist mir all das täglich passiert. Jede Form von sexueller Belästigung und Erniedrigung beraubt dich deiner Rolle als Mensch. In dem Moment signalisiert dir ein Mann deutlich: Du bist nicht gleichwertig, sondern unterlegen. Das, was man in dem Moment spürt, ist Hilflosigkeit und Demütigung. 

Vor einigen Jahren hast du in Kairo gelebt – Ägyptens Hauptstadt, die laut einer Studie der Thomson Reuters Foundation weltweit als die gefährlichste Großstadt für Frauen gilt. Wie hast du das Leben als Frau dort wahrgenommen?  

Es gibt viele Probleme in Kairo: Armut, eine enorme Klassengesellschaft und widerwärtige Ungleichheit. Aber der entscheidende Punkt ist die systematische Unterdrückung der Frau – und diese Unterdrückung spürte ich jeden Tag. Die sexuelle Gewalt und der Umgang mit Frauen in Kairo schrecken mich so sehr ab, dass ich dort nicht mehr leben konnte.

Gibt es keine Möglichkeit sich zu schützen?

Nicht, wenn man an dem ‚normalen’, öffentlichen Leben teilnehmen will. Die einzige Chance, in Kairo von sexueller Belästigung verschont zu bleiben ist es, dem öffentlichen Leben den Rücken zu kehren. Doch das können sich nur reiche Frauen leisten. Sie fahren nicht mit dem Bus, sondern immer mit dem Auto. Sie halten sich nicht an öffentlichen Plätzen auf, sondern etwa in exklusiven Sportclubs und Bars. So ein Leben wäre für mich keine Option. Ich will mich nicht von der Gesellschaft isolieren. Dort wo ich lebe, möchte ich Bus fahren können. Ich möchte auf der Straße spazieren gehen können, ohne sexuell belästigt zu werden.





Nach deiner Rückkehr aus Kairo hast du einen Post bei Facebook veröffentlicht, der Titel: „I am mad as Hell“ („Ich bin wahnsinnig wütend“). Der Post wurde in den sozialen Netzwerken mehr als 300 Mal geteilt. Was hat dich dazu bewegt, den Text zu veröffentlichen?

Ich war so zermürbt von diesen Erfahrungen, dass ich über fast nichts anderes mehr nachdenken konnte. Jedes Gespräch damals endete darin, dass ich über sexuelle Belästigung gesprochen habe. Mir ist aufgefallen, dass Frauen diese Erfahrungen verstanden und teilten. Doch die wenigen Männer, mit denen ich darüber sprach, schienen davon nichts gewusst zu haben oder es nicht wahrzunehmen. Mir wurde klar, dass ich diesen Post veröffentlichen muss, damit mehr Menschen – nicht nur Frauen – wissen, was in dieser Stadt vor sich geht und wie Frauen sich dabei fühlen. Ich wollte mit dem Post zum Ausdruck bringen, dass wir Frauen Handlungsmacht brauchen und dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen sollten.

In deinem 2012 veröffentlichten Post schilderst du vor allem deine persönlichen Erfahrungen mit sexueller Belästigung. Ähnlich haben es Tausende Frauen vor einigen Wochen im Rahmen der #metoo-Kampagne gemacht. Was denkst du darüber?

Ich war sehr berührt. Und es hat mir wahnsinnig wehgetan zu lesen, was Frauen, die ich kenne, schätze und liebe, passiert ist. Ich glaube, dass eine Kampagne wie diese einen Wert hat und es etwas bringt, wenn Frauen von ihren Erfahrungen mit sexueller Belästigung berichten. Ich habe während der #metoo-Kampagne meinen Post von vor fünf Jahren rausgekramt und gelesen. Sofort konnte ich mich an das Gefühl von damals erinnern, sich klein und hilflos zu fühlen und spürte, wie die Wut in mir aufstieg.

Wie gehen Politiker, staatliche Instanzen und die Öffentlichkeit in Ägypten mit diesem Thema um?

Theoretisch gibt es ein strenges Gesetz gegen sexuelle Belästigung in Ägypten. Doch das wird praktisch so gut wie nie umgesetzt. Das liegt auch daran, dass Frauen nicht darauf vertrauen, von staatlicher Seite wirklich geschützt zu werden. Viele Frauen gehen gar nicht zur Polizei, weil sie dort noch mehr gedemütigt werden. Ich habe Geschichten von Frauen gehört, die zur Polizei gegangen sind, um sexuelle Belästigung oder Vergewaltigungen zu melden. Anstatt Hilfe zu bekommen, wurden sie von Polizisten noch einmal vergewaltigt.

Vor einigen Wochen sagte ein Anwalt in einer ägyptischen Talkshow, leicht bekleidete Frauen zu vergewaltigen sei „eine Pflicht“. Glaubst du, dass in naher Zukunft überhaupt Fortschritte möglich sind?

Ich bin leider nicht sehr hoffnungsvoll. Die Akzeptanz in der Gesellschaft für die Unterdrückung der Frau müsste radikal verschwinden. Ein solches Problem kann zudem nur strukturell gelöst werden. Doch bisher ist die Regierung kein Teil der Lösung, weil das Thema in der Politik keine Priorität zu haben scheint. Damit es einen Fortschritt gibt, müssen Frauen vehement widersprechen und sich wehren. Allgemein muss es in der ägyptischen Gesellschaft mehr Zivilcourage geben. Männer die nicht Teil des Problems sind oder sein wollen, müssen aktiv werden, um Teil der Lösung zu werden. Es reicht nicht, wenn einige Männer sagen, dass sie nicht diejenigen sind, die Frauen belästigen. Das hilft uns Frauen nicht. Was wir wirklich brauchen sind Männer, die anderen Männern sagen, dass sie keine Frauen belästigen sollen.







Editorial

Gerechtigkeit fordern

"Ich war jedem Mann dankbar, der mich auf der Straße ignoriert hat."

Ein Beitrag von Jana Sepehr