Sophie Otiende ist Lehrerin, Feministin und Anwältin für Überlebende von Menschenhandel in Kenia.
Sie war gerade einmal 13 Jahre alt, als sie von ihrem Onkel versklavt wurde. Dieser hatte ihr versprochen, sie bei der Aufnahme in eine neue Schule zu unterstützen. Nach elf Monaten der Ausbeutung und des sexuellen Missbrauchs brachte Otiendes Mutter sie zurück nach Hause. Sie schloss ihre Ausbildung ab, ging zur Universität und fing an, sich ehrenamtlich für nichtstaatliche Organisationen (NGOs) zu betätigen.
Im Januar dieses Jahres nahm sie eine neue Rolle an und trat in den Vorstand des Global Fund to End Modern Slavery ein, einem internationalen Fonds zur Bekämpfung von Sklaverei.
Dort schreibt sie über ihre eigenen Erfahrungen zum Menschenhandel und wie sie daran arbeitet, dass Überlebende in den Mittelpunkt der Bewegung zur Beendigung des Menschenhandels gestellt werden.
Hier kannst du mehr aus der Serie “In My Own Words” lesen.
Anm. der Redaktion: Diese Geschichte enthält Details über sexuellen Missbrauch.
Ich habe meine Geschichte nie als etwas Besonderes angesehen. Das liegt vielleicht aber auch daran, dass ich sie ständig zu hören bekomme.
Laut dem Global Slavery Index sind mehr als 40 Millionen Menschen weltweit von Menschenhandel, oder - wie die meisten es heute nennen - moderner Sklaverei, betroffen. Das bedeutet: Es gibt mehr als 40 Millionen Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich.
Ich bin Lehrerin, Feministin und Anwältin für Überlebende von Menschenhandel. Alles, was ich tue oder anstrebe, ist in diesen Identitäten definiert. Erst vor sieben Jahren war ich in der Lage, für mich selbst zu erkennen, dass ich eine Überlebende des Menschenhandels bin.
Die meisten Überlebenden von Menschenhandel leiden unter mehreren Formen des Missbrauchs und sind sich oftmals, genau wie ich, gar nicht bewusst, dass sie Überlebende eines Verbrechen sind. In einigen Fällen werden Überlebende aufgrund der Natur des Menschenhandels für Verbrechen kriminalisiert, die sie begangen haben, während sie gehandelt wurden oder für Dinge wie Migrationsverbrechen bestraft.
Aufgrund ihrer Natur überschneidet sich moderne Sklaverei mit so vielen anderen Themen der sozialen Gerechtigkeit. Aus diesem Grund ist auch ein intersektioneller Ansatz und eine intersektionelle Perspektive hilfreich, um nicht nur die Ursachen des Problems zu bekämpfen, sondern auch die Menschen, die von diesem Problem am stärksten betroffen sind, zu beschützen.
Das Wochenende kam und ging, und mein Onkel brachte mich nicht zur Schule
Während ich aufwuchs, habe ich dieses spezielle Jahr immer als schlechte Erfahrung betrachtet. Es hat etwas sehr Beunruhigendes an sich, wenn man nicht in der Lage ist, genau zu definieren, was einem passiert ist – besonders, wenn es einen so grundlegend verändert. Ich kann mich nur an Bruchstücke meines Lebens erinnern, bevor ich 13 Jahre alt war. Im Allgemeinen weiß ich, dass ich glücklich und frei war, weil ich Eltern hatte, die hart arbeiteten, damit ich alles hatte, was ich brauche. Als ich zwölf war, verlor mein Vater seinen Job und wir mussten von unserem Wohnort in eine weniger wohlhabende Gegend ziehen.
Mein Vater glaubte fest an Bildung und selbst wenn wir nicht genug zu Essen hatten, war es eine seiner höchsten Prioritäten, dass ich zur Schule ging. 1998 hat mein Vater einen alten Motor verkauft und gab das Geld an meinen Onkel, damit dieser mich zur Schule bringen konnte. Zu diesem Zeitpunkt ging ich auf ein Internat in einer Stadt, das acht Stunden von Nairobi entfernt war. Mein Onkel lebte nur eine Stunde von meiner Schule entfernt und da er zu Besuch war, dachten meine Eltern, dass sie Geld und Zeit sparen könnten, wenn sie mich von ihm zur Schule bringen ließen. Wir machten uns am Wochenende auf den Weg und am Montag sollte ich in der Schule sein. Zu diesem Zeitpunkt schien es eine großartige Idee zu sein.
Doch das Wochenende kam und ging, und mein Onkel brachte mich nicht zur Schule. Etwa eine Woche später wurde mir klar, dass er nicht den Plan hatte, mich zur Schule zu bringen, sondern dass ich für meinen Onkel als Hausangestellte arbeiten sollte.
Ich musste früh aufstehen und ging spät ins Bett, weil ich die ganze Zeit arbeitete. Nachts wurde ich auch von einigen Leuten, die im Haus meines Onkels wohnten, sexuell missbraucht. Es gibt ein paar Dinge, an die ich mich aus diesem Jahr erinnere: Ich war nicht in der Lage zu weinen, ich fragte mich, warum ich noch lebte, ich war wie betäubt von all dem Schmerz. Ich erinnere mich, dass ich nicht wusste, ob ich jemals wieder glücklich sein könnte.
Wenige Überlebende von Menschenhandel erfahren Gerechtigkeit durch das Strafjustizsystem
Das ist, was Trauma mit einem macht und viele Überlebende müssen ohne Hilfe mit den Auswirkungen des Traumas zurechtkommen. Einige wenige haben das Glück, Unterstützung durch Organisationen zu erhalten. Eine noch kleinere Zahl erfährt durch das Strafrechtssystem Gerechtigkeit.
Ich war für elf Monate im Haus meines Onkels. Er hatte meinen armen Eltern erzählt, dass ich in der Schule war und mich dazu entschieden hatte, bei ihm zu bleiben, weswegen meine Eltern sich keine Sorgen machten. Eines Tages schickten sie mich zu einem Geschäft und ich dachte, das wäre meine Chance zu entkommen. Während ich in der Stadt war, traf ich eine Freundin meiner Mutter. Ich brach das erste Mal seit langer Zeit zusammen. Sie riet mir, zurück zu gehen und versprach mir, dass meine Mutter mich abholen würde. Meine Mutter kam am nächsten Tag und brachte mich nach Hause.
Ich wurde oft nach Gerechtigkeit gefragt und ob ich das Gefühl hab, sie erhalten zu haben. Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sehen Gerechtigkeit entweder durch eine kriminelle oder religiöse Linse. Sie wollen wissen, ob mein Onkel verhaftet wurde oder ob ich will, dass er verhaftet wird. Die religiösen Leute wollen wissen, ob ich ihm vergeben habe.
Die Wahrheit ist, dass nur wenige Überlebende von Menschenhandel Gerechtigkeit durch das Strafjustizsystem erfahren und dass Vergebung so viel komplizierter ist.
Mein Onkel ist niemals ins Gefängnis gekommen. Zu dem Zeitpunkt haben wir auch gar nicht darüber nachgedacht, ihn verhaften zu lassen. Für meine Eltern war mein Wohlergehen und meine Genesung am wichtigsten Habe ich ihm vergeben? Darauf habe ich nicht wirklich eine Antwort. Es hängt davon ab, wie Vergebung definiert wird. Er hat keinen Platz mehr in meinen Gedanken, obwohl ich weiterhin Narben von dieser Erfahrung mit mir herumtrage. Ich bin nicht mehr wütend auf ihn als Person.
Missbrauch gedeiht an Orten der Ungleichheit
Meine Wut richtet sich gegen ein System, dass es Menschen wie ihm ermöglicht, mit dem, was er getan hat, davonzukommen. Ein System, das ein Umfeld schafft, in dem Leute wie er sich Vorteile verschaffen können. Wir leben in einem kapitalistischen System, das Profit über alles andere stellt – einschließlich Menschenleben. Das bedeutet für arme Menschen, dass sie auf die eine oder andere Weise für den Tod oder Missbrauch gezeichnet sind.
Der Menschenhandel ist, um ehrlich zu sein, nur einer dieser Wege. Unser patriarchales System unterdrückt Frauen, entmenschlicht sie und macht sie anfällig für den Menschenhandel. Rassismus und Neo-Kolonialismus haben Ungleichheiten auf nur jede erdenkliche Art und Weise geschaffen. Missbrauch gedeiht an Orten der Ungleichheit.
Die US-amerikanische Schriftstellerin und Feministin Audre Lorde sprach darüber, dass jede Frau ein Arsenal oder eine Wut gegenüber persönlicher und institutioneller Unterdrückung in sich trägt. Wenn diese Wut mit Präzision eingesetzt wird, kann sie als mächtige Energiequelle für Fortschritt und Veränderung genutzt werden.
Sie sagte, dass Wut mit Information und Energie geladen ist. Ich nutze diese Energie, um mich für bessere Schutzsysteme für Überlebende von Menschenhandel einzusetzen. Wie bereits erwähnt, werden viele Überlebende von Menschenhandel nicht als solche identifiziert und selbst, wenn sie es werden, sind sie sich der Qualität der Dienstleistungen, die sie erhalten werden, nie sicher. Die meisten erfahren nicht einmal, dass das, was sie durchgemacht haben, Menschenhandel ist.
Die Bekämpfung von Menschenhandel hatte immer ein Problem mit dem “Retterkomplex”
Die Realität ist, dass nur wenige Überlebende die Dienstleistungen erhalten, die ihr Leben vollständig verändern. Meine Arbeit konzentriert sich darauf, über Interventionen nachzudenken, die wir den Überlebenden anbieten können und zu prüfen, wie diese standardisiert werden können.
Als jemand, die hauptsächlich damit beschäftigt ist, Überlebenden direkte Dienstleistungen anzubieten, bin ich die Person geworden, die Fragen zu den Standards der Betreuung stellt, die wir anbieten. Sind die Interventionen, die wir anbieten, evidenzbasiert?
Die Bewegung zur Bekämpfung von Menschenhandel hatte immer ein Problem mit dem “Retterkomplex”. Sie konzentriert sich auf Ansätze, um das “Opfer” zu “retten”, ohne die Personen wirklich als Menschen mit Handlungsfähigkeit zu sehen.
Dadurch bin ich zu einer starken Befürworterin von Daten und der Art und Weise, wie wir diese Daten verwalten, geworden. Ich arbeite mit Basisorganisationen über Liberty Shared zusammen, einer asiatischen NGO, die an Projekten zur Bekämpfung des Menschenhandels arbeitet. Ich empfehle deren multifunktionales Victim Case Management System zur Datenerfassung und die Anpassung von besseren Aufzeichnungspraktiken.
Überlebende moderner Sklaverei müssen bei der Datenerhebung involviert werden
Bei der Verwaltung von Daten für Überlebende ist die Frage der Ethik zentral. Die Art, wie Daten gesammelt, verwaltet und analysiert wird, gibt wenig Platz, um an die Überlebenden zu denken. In vielerlei Hinsicht bleiben Überlebende Werkzeuge zur Beobachtung in der Datenerhebung, -verwaltung und -analyse. Die online Plattform Survivor Alliance setzt sich dafür ein, dass mehr Überlebende in die Forschung und Datenerhebung der Bewegung involviert werden und dass die dringend benötigte Ethik mit in die Diskussion eingebracht wird.
Die meisten Daten werden von Basisorganisationen gesammelt. Diese tun ihr Bestes in der Datenverwaltung mit den wenigen Ressourcen, die sie haben. Darum bin ich froh, dass ich mit Liberty Shared arbeiten kann, um ein System für Basisorganisationen anzubieten, um Daten von Überlebenden zu sammeln und zu analysieren.
Ich habe auch eine Leidenschaft für das Erzählen von Geschichten und die Geschichten der Überlebenden sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. Die Wahrheit ist, dass Überlebende sehr selten die Chance erhalten, ihre Geschichten zu erzählen, wodurch sie als Opfer dargestellt werden. Die Arbeit, auf die ich mich konzentriere, stellt sicher, dass Überlebende selbst bestimmen können, wie ihre Geschichte erzählt wird.
Ich arbeite auch aktiv an der Führung und Repräsentation von Überlebenden in der Bewegung. Wie wollen wir Überlebende zentrieren. Was bedeutet Zentrierung wirklich?
Minh Dang, CEO der Survivor Alliance, spricht darüber, dass die Bewegung zur Bekämpfung des Menschenhandels eine der wenigen Bewegungen ist, die nicht von Überlebenden geleitet wird. Sie wurde von Expert*innen gegründet und geleitet. Ich bin der festen Überzeugung, dass Überlebende ihren Platz in der Bewegung konsequent einfordern müssen und bin froh, dass es Organisationen wie den Global Fund to End Modern Slavery gibt, die erkannt haben, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen müssen.
In seiner Arbeit bezieht der Fonds Regierungen, die Zivilgesellschaft und den privaten Sektor mit ein, um robuste, nachhaltige Programme zu erstellen, die moderne Sklaverei von allen Seiten angehen. Meine Rolle im Vorstand wird entscheidend sein, um auf dieser Grundlage aufzubauen und sicherzustellen, dass wir zuhören, lernen und die Stimmen der Überlebenden in allem, was wir tun, vollständig mit einbeziehen.
Welche Fortschritte haben wir als Organisationen gegen moderne Sklaverei gemacht? Ich denke, dass wir das allgemeine Bewusstsein für das Verbrechen des Menschenhandels erhöht haben. Die meisten Länder erkennen es als Verbrechen an und viele haben spezifische Gesetze, mit denen man dagegen vorgehen kann.
Ich glaube, dass viele Überlebende aus gefährlichen Situationen herausgeholt wurden und ihnen geholfen wurde. Wir haben mehrere Anwälte, die Kampagnen durchführen und für die Rechenschaftspflicht aller möglichen Täter kämpfen.
Sind wir kurz davor, dieses Verbrechen zu unseren Lebenszeiten zu eliminieren? Nicht wirklich, aber wir bemühen uns darum und ich bin stolz auf die vielen Überlebenden, die jeden Tag hinausgehen und die nötige Arbeit leisten.
Du bist Schriftsteller*in oder Aktivist*in oder hast etwas zu sagen? Dann kannst du dich für das Global Citizen Contributing Writers Program bewerben, indem du dich an contributors@globalcitizen.org wendest.
Wenn auch du dich für eine gerechte Welt ohne Menschenhandel einsetzen willst, dann werde hier mit uns aktiv.