Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat bereits enorm viele Menschenleben gefordert und kulturelles Erbe des Landes zerstört.
Zudem hat die unerbittliche Bombardierung ziviler Gebiete und wichtiger Teile der Infrastruktur die am schnellsten wachsende Flüchtendenzahl der modernen Geschichte ausgelöst. Aufgrund der Angriffe in weiten Teilen der Ukraine ist die Fähigkeit des Landes, Nahrungsmittel zu produzieren und zu exportieren, zunehmend gefährdet. Das führt zu einer Nahrungsmittelknappheit im Land, bedroht aber auch Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt – insbesondere in Regionen, die ebenfalls mit humanitären Krisen konfrontiert sind.
Die Ukraine ist ein führender Exporteur wichtiger Nahrungsmittel wie Weizen, Mais und Pflanzenöl. Der Rückgang dieser Exporte führt schon jetzt zu Erschütterungen im gesamten Lebensmittelsystem.
Für Ertharin Cousin – der ehemaligen Direktorin des Welternährungsprogramms (WFP), einem Partner von Global Citizen – erinnert der eskalierte Konflikt an die Lebensmittelpreiskrise der Jahre 2007 und 2008. Diese hatte zu einem sprunghaften Anstieg der Ernährungsunsicherheit sowie zu geopolitischer Instabilität auf der ganzen Welt geführt.
Expert*innen warnen, dass die Zahl der von akutem Hunger bedrohten Menschen infolge des Kriegs auf 500 Millionen ansteigen könnte. Doch noch ist es möglich, gegenzusteuern. Um den Druck auf das Nahrungsmittelsystem zu verringern, muss zunächst den Konflikt beendet und Frieden in der Ukraine geschafft werden. Gleichzeitig müssen Kleinbäuer*innen auf der ganzen Welt unterstützt und dafür gesorgt werden, dass humanitäre Organisationen Zugang zu Nahrungsmitteln mit fairen Preisen haben.
"Wir brauchen ein Lebensmittelsystem, das den umweltbedingten und medizinischen Anforderungen von Menschen auf der ganzen Welt gerecht wird, gleichzeitig aber allen Akteur*innen und Interessensgruppen im Lebensmittelsystem wirtschaftliche Vorteile bietet", sagt Cousin. "Das wäre ein gerechtes und nachhaltiges Lebensmittelsystem."
In unserem Interview mit Cousin spricht sie über die Auswirkungen des Krieges auf das globale Lebensmittelsystem, darüber, was getan werden kann, um Kleinbäuer*innen zu helfen und wie wichtig die Unterstützung von Geflüchteten ist.
Global Citizen: Wie wirkt sich der Krieg auf Landwirt*innen und Agrarproduzent*innen in der Ukraine aus?
Ertharin Cousin: Da der Konflikt andauert, sind sie stetig betroffen. Wenn Bomben fallen, können die Landwirt*innen nicht arbeiten. Russland und die Ukraine sind zusammen für ein Drittel der weltweiten Weizenexporte verantwortlich. Wenn die Ukraine keine Landwirtschaft mehr betreibt, wird sich das auf die Lebensmittelimporte vieler Länder auswirken, insbesondere der Länder im Nahen Osten.
Wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, dass zwar Weizen ein wichtiger Rohstoff ist, aber auch beispielsweise Sonnenblumenöl, das zum Kochen unerlässlich ist, betroffen ist.
Welche Auswirkungen hat dieser Konflikt auf das globale Lebensmittelsystem?
Das Lebensmittelsystem ist recht komplex, aber es wird auch durch Spekulationen auf dem Terminmarkt bestimmt. Und da die russische Invasion die landwirtschaftliche Produktion in der Ukraine unterbricht, lässt sich ein Anstieg der Weizenterminkontrakte beobachten. Das hat Folgen für die Lebensmittelpreise auf der ganzen Welt – das gilt nicht nur für Importe aus der Ukraine, sondern für das gesamte globale Rohstoffsystem.
All das passiert, nachdem Einschränkungen in der Versorgungskette wegen der COVID-19-Pandemie die Lebensmittelpreise bereits erhöht haben. Hinzu kommen die durch die Klimakrise verursachten Störungen; selbst in den USA gab es schwere Dürren und Überschwemmungen. Nach wie vor ist dadurch die Produktion der Landwirt*innen in aller Welt beeinträchtigt.
Wie wirkt sich der Krieg auf Kleinbäuer*innen in anderen Ländern aus, vor allem wenn man bedenkt, dass Russland der führende Exporteur von Düngemitteln ist?
In den letzten Jahren war die Frage: Wie helfen wir 500 Millionen Landwirt*innen, sich an das zunehmend unbeständige Klima anzupassen? Jetzt allerdings müssen wir auch Herausforderungen für das Nahrungsmittelsystem in Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg berücksichtigen.
Nehmen wir an, du bist ein*e Landwirt*in in Ostafrika und bereitest dich auf die neue Saison vor, während du gerade von einer Heuschreckenplage heimgesucht wirst. Oder du lebst in Westafrika und hattest mit einer Dürre zu kämpfen. Und nun fehlt dir zusätzlich der Zugang zu Düngemitteln. Das Problem begann allerdings nicht erst mit der Invasion. Die Preise für Düngemittel waren wegen gestiegener Produktionskosten ohnehin sehr hoch. Das hat sich aber noch verschärft.
Infolge dessen gibt es in einigen Ländern, wie zum Beispiel Ruanda – ich habe heute mit jemandem von dort gesprochen – keinen Dünger zu kaufen. Wir wissen, dass die Landwirt*innen zwar auch ohne Dünger weiter anbauen. Die Produktivität ist aber geschätzt 40 bis 60 Prozent geringer als mit Dünger.
Wie wird das globale Ernährungssystem noch beeinflusst?
Der Anstieg der Rohölpreise veranlasst die Biokraftstoffbranche, die Produktion hochzuschrauben – und dafür verwendet sie Mais. Dem Nahrungsmittelsystem fehlt damit weitere Nahrung und der Preis für Mais steigt.
Zusammen mit den hohen Preisen für Weizen wird dies den Zugang zu Nahrungsmitteln einschränken. All diese Aspekte – bezüglich der Biokraftstoffe, des Terminmarktes, der fehlenden Düngemittel und anderen Hilfsmitteln zur Produktivitätssteigerung – führten auch zur Nahrungsmittelkrise 2007-2008. Doch diesmal haben wir die Chance, Maßnahmen zu ergreifen, um die jeweiligen Herausforderungen zu bewältigen und die Lebensmittelpreiskrise zu minimieren.
Was müssen wir als globale Gemeinschaft tun, um eine Verschärfung der Krise zu verhindern?
Zunächst müssen wir unbedingt die Geflüchteten, die Binnengeflüchteten und die Menschen in der Ukraine mit Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern unterstützen, die sie zum Überleben benötigen. Auch die Landwirt*innen in der Ukraine müssen wir unterstützen, damit sie nicht nur anbauen und ernten, sondern auch exportieren können.
Es gibt eine Reihe von Ländern, die über überschüssige Nahrungsmittelbestände verfügen. Diese Länder sollten ermutigt werden, ihre Nahrungsmittelbestände freizugeben und insbesondere an das Welternährungsprogramm (WFP) zu verkaufen. So können wir sicherstellen, dass das WFP die bedürftige Bevölkerung versorgen kann. Ansonsten wird diese Krise sich noch verschärfen.
Sind die Nahrungsmittelvorräte an das WFP freigegeben, müssen wir dafür sorgen, dass sie schnell genug auf den Weltmarkt gelangen, um eine gewisse Konsistenz in der weltweiten Nahrungsmittelversorgung zu gewährleisten.
Auch Maßnahmen, um die 500 Millionen Kleinbäuer*innen zu unterstützen, spielen eine Rolle – und dass sie mit der Umstellung auf ein nachhaltiges Lebensmittelsystem in Einklang stehen.
Wir müssen die Welt darauf aufmerksam machen, dass die Krise für einige schon jetzt unmittelbar spürbar ist, sich für andere aber erst noch zu einer Nahrungsmittelkrise entwickeln wird. Denn immer mehr Länder sind von steigenden Preisen für Lebensmittelimporte betroffen. Die Problematik kann unter Umständen sehr lange anhalten. Die Ernährungskrise von 2007 dauerte zwei Jahre. Zudem sind viele der Meinung, dass die Ernährungskrise von 2008 der Auslöser für den Arabischen Frühling war.
Es gibt zahlreiche Forschungsergebnisse, die einen kausalen Zusammenhang zwischen akut hohen Preisen und politischer Instabilität belegen. Im Jahr 2008 führten die hohen Lebensmittelpreise in 40 Städten auf der ganzen Welt zu Unruhen. Dabei handelt es sich nicht um chronisch verunsicherte Menschen. Es handelt sich um Menschen, die sich keine Lebensmittel, kein Brot mehr leisten konnten.
Schon vor der Invasion warnte das Welternährungsprogramm (WFP), dass aufgrund von COVID-19 die Zahl der Menschen, die unter chronischer Ernährungsunsicherheit leiden, um 100 Millionen ansteigt. Die Zahl der Menschen, die von akutem Hunger bedroht sind, also kurz vor einer Hungersnot stehen, beträgt etwa 45 Millionen. Die meisten dieser Menschen leben in Konfliktländern. Es herrscht ein Mangel an finanzieller Deckung, um diesen gefährdeten Menschen zu helfen.
Während sich die Welt darauf konzentriert, die Bedürfnisse der ukrainischen Geflüchteten zu befriedigen, sehen wir immer noch nicht das Ausmaß an Unterstützung, das notwendig wäre, um diejenigen zu unterstützen, die sich in Sachen Ernährung in einer schwierigen Lage befinden. Doch die Kosten, um diesen Menschen zu helfen, werden aufgrund der infolge des Ukrainekriegs steigenden Lebensmittelpreise immer höher werden.
Welcher Aspekt in Bezug auf die Nahrungsmittelkrise wird übersehen, dem wir mehr Aufmerksamkeit schenken sollten?
Ich glaube, dass sich alle auf die Herausforderungen im Energiebereich und auf die hohen Energiepreise konzentrieren, während sich die Nahrungsmittelkrise zuspitzt. Wenn wir nicht beide Themen gleich priorisieren, werden wir große Nachteile erleben, die wir vermeiden sollten. Außerdem denke ich, dass wir, während die Welt ihre Aufmerksamkeit auf die Ukraine richtet, nicht vergessen dürfen, dass hungernde Kinder auf der ganzen Welt mit Nahrungsmitteln versorgt werden müssen.
Was können Global Citizens tun, um zu helfen?
Wir brauchen aktive Global Citizens, die von Entscheidungsträger*innen humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit fordern für diejenigen, die nicht unmittelbar von dem Ukrainekrieg, sondern von potenziell steigenden Lebensmittelkosten betroffen sind. Wir brauchen Global Citizens, die sich bei Regierungen für finanzielle und politische Unterstützung einsetzen, um ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln zu ermöglichen. Als Global Citizens müssen wir auch dafür sorgen, dass diejenigen, die über die nötigen Mittel verfügen, Beiträge zu humanitärer Hilfe leisten.
Angenommen, wir können die aktuellen Herausforderungen bewältigen: Was erhoffen Sie sich bis 2030 für das globale Lebensmittelsystem?
Wir brauchen ein Lebensmittelsystem, das den umweltbedingten und medizinischen Anforderungen von Menschen auf der ganzen Welt gerecht wird, gleichzeitig aber allen Akteur*innen und Interessengruppen im Lebensmittelsystem wirtschaftliche Vorteile bietet. Das wäre ein gerechtes und nachhaltiges Lebensmittelsystem.