Statistisch gesehen leidet jeder fünfte Mensch weltweit an einer vernachlässigten Tropenkrankheit – und damit an einer Krankheit, die vermeidbar oder behandelbar ist. Diese sogenannten NTDs (kurz für Neglected Tropical Diseases) treffen, wie der Name vermuten lässt, vor allem Menschen in Ländern mit tropischem Klima.
In diesen Regionen sind die gesundheitlichen Voraussetzungen oft schlecht. Viele der weltweit über 1,5 Milliarden Betroffenen von NTDs haben keinen Zugang zu Medikamenten, Gesundheitsversorgung und -aufklärung. Sie leben häufig in Armut, ohne Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen.
Die meisten der insgesamt 20 vernachlässigten Tropenkrankheiten werden durch Parasiten, Bakterien und Viren verursacht. Die Folgen einer Erkrankung sind oft körperliche oder mentale Behinderungen, was die Betroffenen umso mehr in einem Armutskreislauf gefangen hält.
Diesen Kreislauf möchte die internationale Entwicklungsorganisation Christoffel-Blindenmission (CBM)durchbrechen. Seit über 100 Jahren setzt sie sich für sehbehinderte, blinde, gehörlose und körperbehinderte Menschen in Entwicklungsländern ein. Zudem ist die CBM Gründungsmitglied des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten (DNTDs).
Prof. Dr. Martin Kollmann, Experte für vernachlässigte Tropenkrankheiten und CBM-Augenarzt, ist derzeit in Nairobi stationiert. Im Interview mit Global Citizen spricht er über die Herausforderungen und Erfolge bei der Eliminierung von NTDs und erklärt, welche Lehren die Weltgemeinschaft jetzt aus der Coronavirus-Pandemie ziehen sollte.
Die andauernde Vernachlässigung dieser Armutserkrankungen. NTDs sind vor allem Krankheiten vernachlässigter Menschen, betroffen sind überproportional Frauen und andere benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Unbehandelt führen NTDs zu chronischen Behinderungen, Exklusion und Stigma. Ihre Krankheitslast ist zwar mit der bekannterer Krankheiten wie HIV/Aids, Tuberkulose und Malariavergleichbar, vielfach überschneidet sich diese auch. Aber die Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten hat für viele politische Entscheidungsträger*innen und Entwicklungsorganisationen bis heute immer noch zu wenig Priorität – und das obwohl diese Krankheiten vermeidbar oder behandelbar wären und zudem Armut verfestigen.
Sie verbreiten sich insbesondere dort, wo staatliche Strukturen und Gesundheitssysteme schwach sind, schlechte hygienische Bedingungen und Mangel an sauberem Wasser vorherrschen und wo Menschen und Tiere auf engem Raum zusammenleben. Viele NTDs sind dabei hochansteckende Infektionen, wie zum Beispiel das Trachom, eine schmerzhafte Augeninfektion, die unbehandelt zu starken Sehbeeinträchtigungen führen kann — bis hin zur Erblindung. Von dieser Krankheit sind die Menschen in dem ostafrikanischen Land Äthiopien weltweit am stärksten betroffen.
Damit die von NTDs betroffenen Menschen nicht länger vernachlässigt werden, sollte die Bekämpfung dieser Krankheiten in allen Entwicklungsmaßnahmen von Anfang an mitgedacht werden. Ihre Verbreitung gibt Hinweis auf besonders vernachlässigte Menschen und kann insofern dabei helfen, Investitionen gezielt im Sinne derUN-Nachhaltigkeitsziele (Global Goals)einzusetzen. Fortschritte bei der Bekämpfung von NTDs könnten als geeigneter Gradmesser für das Ziel “niemanden zurücklassen“ dienen. Darum fordern wir die Anpassung aller Programme und Maßnahmen zur Gesundheitssystemstärkung, sodass sie einen expliziten, nachweisbaren Beitrag zur Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten leisten.
Es sollten dabei verstärkt sektorübergreifende Ansätze verfolgt werden, wie beispielsweise der One-Health-Ansatz. Das bedeutet, neben der Human- auch die Tiermedizin sowie Bildung, Landwirtschaft, Ernährungssicherung sowie Sanitär- und Hygienemaßnahmen systematisch mit einzubeziehen. Außerdem fordern wir die Erhöhung der Mittel zu NTD-Bekämpfung entsprechend dem globalen Bedarf. Forschung, die Entwicklung geeigneter Diagnostika, Medikamente und Impfungen sowie Implementierungsprogramme zur Prävention, Aufklärung, Behandlung, Bereitstellung und Verteilung von Medikamenten müssen ausreichend finanziert sein.
In den vergangenen Jahren stechen zwei Erfolge besonders heraus: Als erstes Land im subsaharischen Afrika hat Ghana 2018 Trachom offiziell eliminiert, das wurde auch von der WHO bestätigt. Die CBM und unsere lokalen Partner haben dabei von Anfang an eine Vorreiterrolle eingenommen. Dieser große Erfolg demonstriert eindringlich die Bedeutung einer nachhaltigen Stärkung lokaler Kapazitäten.
Ein zweiter wichtiger Erfolg: Aufbauend auf unserer langjährigen Unterstützung der nationalen Programme zur Bekämpfung der Flussblindheit und des Trachoms – trotz Bürgerkrieg und Krisen – steht nun das Trachom auch in Burundi kurz vor der Eliminierung. Bei der Flussblindheit sollte dies in wenigen Jahren ebenfalls gelingen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat inzwischen praktisch alle Interventionen zur Bekämpfung der NTDs bis auf Weiteres gestoppt – zum Glück konnten die für das Frühjahr geplanten Maßnahmen in den meisten Ländern noch erfolgreich abgeschlossen werden. Eine längere Unterbrechung würde uns aber deutlich zurückwerfen. Dabei gibt es auch viele Unwägbarkeiten hinsichtlich der zeitgerechten Produktion und Verschiffung von Medikamenten und Diagnostika für die Zeit nach der COVID-19 Pandemie. Wie stark die Pandemie NTD-endemische Länder betreffen wird, hängt stark von der Resilienz nationaler und lokaler Gesundheitssysteme ab.
Ähnlich wie bei früheren Ebola-Epidemien, sind es gerade gemeindebasierte NTD-Programme, die in abgelegenen und unterversorgten Gebieten als geeignete Plattformen für die wichtige Verlangsamung der Ausbreitung von Corona genutzt werden könnten. Trotzdem ist zu befürchten, dass die durch die Pandemie ausgeprägte globale Stresssituation die Vernachlässigung von NTDs weiter verstärken wird. Und das obwohl es sich bei dem Coronavirus wie auch bei mehreren NTDs um eine (von Tieren auf den Menschen übertragene) Zoonose handelt. Eine gemeinsame Ursachenbekämpfung wäre geboten.
Die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass Krankheiten keine Grenzen kennen, dass Gesundheit im Interesse aller liegt, und dass Menschen, die von Armut und Behinderungen betroffen sind, unserer besonderen Fürsorge bedürfen. Dabei sind starke und inklusive Gesundheitssysteme mit ausreichend und gut ausgebildetem Gesundheitspersonal sowohl zur Früherkennung als auch zur Krankheitsbekämpfung unerlässlich. Weiter zeigt die Pandemie, dass Maßnahmen dann umso erfolgreicher sind, wenn die Bevölkerung rechtzeitig und umfassend einbezogen wird und Mythen sowie Fake News proaktiv und fortlaufend bekämpft werden. Diese Lehren müssen wir für die Zukunft zur Vermeidung vergleichbarer Pandemien aber auch zur Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten beherzigen.