Russische Militärbewegungen beobachten. Die ukrainische Verteidigung koordinieren. Die Moral stärken. Begriffe wie diese fallen eigentlich nur in militärischem Kontext. Doch tatsächlich finden die Aktivitäten über das soziale Netzwerk TikTok statt – denn der Ukrainekrieg ist historisch gesehen der am stärksten mit dem Internet verwobene Krieg der Geschichte.
Wer dieser Tage das Internet nutzt, läuft Gefahr, ein emotionales Schleudertrauma zu erleiden. Denn auf sozialen Netzwerken schlagen einem nun neben Katzen-Reels und Tweets zu politischen Themen auch unzählige “Wie kann ich helfen?”-Posts entgegen.
Doch für den Großteil unserer Generation ist das Internet nun mal der Ort, an dem wir uns informieren. Im 19. Jahrhundert brachten nur Zeichnungen und Karikaturen den Menschen die Realität des Krimkriegs nahe. Im 20. Jahrhundert brauchten die Fotografien der Weltkriege noch Wochen, um entwickelt zu werden. Aber der Arabische Frühling im 21. Jahrhundert wurde praktisch live auf Twitter gestreamt. Von Tunesien bis Bahrain filmten die Menschen ihre Forderungen mit Smartphones und schickten sie unbearbeitet und unzensiert in die Welt. Soziale Medien bei Demonstrationen einzusetzen, kann dabei helfen, die eigene Botschaft schneller zu verbreiten.
Heute sind soziale Medien quasi der Hauptschauplatz globaler Bewegungen für soziale Gerechtigkeit – vom #BlackOutTuesday (ursprünglich der Versuch zweier Musik-Insider, den Geschäftsbetrieb in der Branche zu unterbrechen, um die “Black Lives Matter”-Bewegung zu unterstützen), der über Nacht zu einem Meer von schwarzen Kästen auf Instagram führte, bis hin zu #MeToo, der Bewegung gegen sexuellen Missbrauch und Belästigung.
Dass via Social Media etwa Widerstandsaktionen gegen unterdrückerische Regimes koordiniert, Informationen in rasantem Tempo verbreitet und mobilisierende Narrative in die Welt gesetzt werden können, macht die Plattform zu einem mächtigen Instrument.
Präsident Selenskyj ist sich dessen bewusst. Schon sein erstes gepostetes Video, das ihn und sein Kabinett in der zweiten Nacht der Invasion auf den Straßen von Kiew zeigte, machte deutlich: Der ukrainische Präsident nutzt die sozialen Medien für sich. Seitdem teilt er dort täglich Updates, “um den Informationskrieg zu dominieren”.
Und dann ist da noch der offizielle Twitter-Account der Ukraine. Die dort geposteten Inhalte sind sehr viel weniger ernsthaft, als man es vom Social-Media-Profil eines Landes erwarten würde, das sich im Krieg befindet. Wohl auch deshalb lautet die Twitter-Bio: “Ja, dies ist der offizielle Twitter-Account der Ukraine.”
Putins Angriff auf die Ukraine ist nicht der erste Krieg, für den auch die sozialen Medien von Bedeutung sind – aber der erste, der sich auf TikTok abspielt. Willkommen bei WarTok: einer dystopischen Social-Media-Realität, in der dir ein 15-Jähriger den Krieg erklärt, in der du einem militärischen Konflikt näher bist als je zuvor und dir dennoch nie ganz sicher sein kannst, ob wirklich die Realität abgebildet ist oder nicht.
Was ist WarTok?
WarTok setzt sich aus “War”, dem englischen Wort für “Krieg”, und dem Namen der Social Media Plattform TikTok zusammen. TikTok behauptet zwar immer wieder, dass es unpolitisch ist, aber wenn wir mal ehrlich sind, entspricht das einfach nicht der Wahrheit.
TikTok hat mehr als eine Milliarde Nutzer. Laut durchgesickerter Dokumente von Juni 2020 werden pro Stunde mindestens fünf Millionen Videos gepostet. In den vergangenen Wochen wurde die Website mit unzähligen Posts zu militärischen Aktivitäten, zivilen Protesten, Hintergrunderklärungen und mehr überschwemmt.
Ein Algorithmus sorgt dafür, dass auf der "For You"-Seite User*innen bestimmte Inhalte gezeigt werden. Die raffinierte Software kann ganz normalen Menschen über Nacht das Rampenlicht eines Superstars bescheren. Doch sie kann auch dafür sorgen, dass innerhalb weniger Minuten Millionen von Menschen wackelige Aufnahmen von Staub sehen, der sich nach einem russischen Raketenangriff wieder legt.
Dass Videos per Smartphone unheimlich leicht gefilmt und per TikTok enorm schnell veröffentlicht werden können, ist ein ebenso mächtiges wie auch gefährliches Phänomen.
Der Algorithmus von TikTok zeigt Inhalte an, von denen er glaubt, dass die Leute sie sehen wollen. Und das Interesse an Videos über den Krieg ist derzeit groß: In den 15 Tagen zwischen dem 20. Februar und dem 11. März beispielsweise stiegen die Aufrufe von Videos mit dem Hashtag #Ukraine von 6,4 Milliarden auf 27,6 Milliarden. Das sind etwa 1,4 Milliarden Aufrufe pro Tag.
Wie TikTok im Kampf gegen Putins Invasion eingesetzt wird
Um russische Militärbewegungen zu verfolgen
Während Putin und hochrangige russische Beamte monatelang bestritten, dass Moskau eine Invasion in der benachbarten Ukraine vorbereitet, zeigte sich auf TikTok ein anderes Bild. Militäranalyst*innen untersuchten Videos auf der Plattform, die hoch entwickelte russische Waffen und Militärfahrzeuge zeigten. Diese wurden per Eisenbahn sowie über Autobahnen und kleineren Straßen in Richtung der ukrainischen Stellungen transportiert.
Um Beweise zu sammeln
Die Ukraine nutzt die Plattform, um die Brutalität der Gewalt zu dokumentieren. Schon jetzt werden Aufnahmen gesammelt, die bei der Ermittlung wegen potenzieller Kriegsverbrechen eine entscheidende Rolle spielen könnten.
101 Erklärungen
TikToker wie Xena Solo, Noah Glenn Carter, Philip DeFranco und A.B. Burns-Tucker posten “101-Erklärungen” zum Krieg. Die Videos muten genauso leicht und schrullig an wie klassische TikToks zu weniger ernsten Themen. Burns-Tucker zum Beispiel, bei TikTok als @iamlegallyhype bekannt, bezeichnete den russischen Präsidenten Wladimir Putin als "Big Bank P" und die Ukraine als "Yuki" – und postete einen Clip aus dem Film “Freitag”, um zu veranschaulichen, welchen Verlauf des Konflikts sie erwartet.
Während diese Art von Videos versucht, der Welt den komplexen Krieg vereinfacht zu erklären, gibt es noch eine andere Art von Erklär-TikToks: Sie richten sich an Ukrainer*innen vor Ort und lehren, "wie man einen Molotow-Cocktail herstellt" oder "wie man verlassene oder erbeutete russische Militärfahrzeuge fährt".
Stärkung der Moral
Auch, um den Zusammenhalt, die nationale Entschlossenheit zu stärken und um Geschichten besonders tapferer Menschen zu verbreiten, wurde TikTok genutzt. Die Videos zeigen etwa, wie Ukrainer*innen allein mit Körperkraft Panzer aufhalten, vor Truppen die Nationalhymne singen oder ihre Dörfer verteidigen.
Koordinierung der Verteidigungsstrategie
Die Ukraine hat in hoher Geschwindigkeit Verteidigungsstrategien verbreitet und Fluchtwege geplant. Zudem hat sie Videos und Infos zu russischen Saboteur*innen und den Standorten russischer Militärfahrzeuge veröffentlicht.
Mobilisierung des Westens
TikTok hat sich als mächtiges Instrument erwiesen, um den Westen auf die Seite der Ukraine zu ziehen, die ihre Demokratie gegen Russland verteidigen will. Ukrainer*innen haben die Plattform genutzt, um zu zeigen, wie ähnlich ihr Leben dem der Menschen etwa in Mitteleuropa ist.
Rührende Videos haben weltweit Aufsehen erregt, etwa das einer Großmutter, die sich von ihren Freund*innen verabschiedet oder das eines Vaters, der sich von seiner Tochter verabschiedet, um zurückzubleiben und zu kämpfen.
Aufzeigen, wie das Leben in der Ukraine aktuell aussieht
Die ukrainische Fotografin Valeria Shashenok nutzt TikTok, um ihr tägliches Leben in der Ukraine zu dokumentieren. In einem Video, das viral ging, zeigt Shashenok einen "typischen Tag in einem Luftschutzkeller" mit der sarkastischen Bildunterschrift "Living my best life 🥰🥰🥰 Thanks Russia!" In dem Video benutzt sie eine Heißluftpistole als Fön, zeigt die Zerstörung der Stadt, ihr Hund fragt sich, warum er jetzt unter der Erde leben muss, und ihre Mutter kocht in einem Topf auf dem Boden.
Was ist die Kehrseite?
Vermutlich hast du es bereit erraten: Fake News und Falschinformationen.
TikTok hat weltweit rund eine Milliarde Nutzer*innen, und jeden Tag werden Millionen von Videos hochgeladen. Die Größe der App bedeutet, dass sich die Videos unglaublich schnell verbreiten. Das macht es nahezu unmöglich, die Verbreitung von Fehlinformationen zu stoppen.
Ein Video, das bereits mehr als 26 Millionen Mal aufgerufen wurde, zeigt einen russischen Soldaten, der mit einem breiten Grinsen auf ukrainischen Feldern abspringt. Das Video löste Empörung aus. Doch der Soldat stammt nicht aus Russland. Das Feld liegt nicht in der Ukraine. Und die Aufnahme entstand im Jahr 2015.
Eine andere Aufnahme, die zum Redaktionsschluss dieses Artikels 421 000 Likes hat, zeigt ukrainische Streitkräfte, die mit Strahlenkanonen schießen. Das Video ist mit dem Hashtag #WW3 versehen. Allerdings handelt es sich dabei um eine Sequenz aus einem Videospiel.
Ähnliches gilt für Tausende weiterer Videos, die auf TikTok geteilt werden und sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Da solche Fake-Videos starke emotionale Reaktionen auslösen können, verbreiten sie sich oft schneller als andere Posts. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich gefälschte Nachrichten in sozialen Medien sechsmal schneller verbreiten als seriöse Informationen.
Oft werden die gefälschten Videos zudem benutzt, um Menschen dazu zu bringen, Geld für Fake-Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden. TikTok erleichtert das Spenden – und das nutzen einige aus. Etwa kann man Livestreamer*innen mit nur einem Mausklick ein "Geschenk" in Form von echtem Geld zukommen lassen.
Wie kann ich helfen?
Die Welt braucht uns als engagierte und aufmerksame Konsument*innen von Inhalten. Wenn du helfen möchtest, kannst du damit beginnen, von dir genutzte Quellen und weitergeleitete Nachrichten zu überprüfen. Dabei ist es sinnvoll, auf verifizierte Informationen zurückzugreifen, etwa diese Fotosammlung. Wenn du Nachrichten und zeitlose Informationen zur Ukraine auf ihre Richtigkeit überprüfen möchtest, ist Ukraine Facts ein hilfreiches Angebot. Auch die Website der Nachrichtenagentur AFP lässt sich zur Überprüfung von Fakten nutzen.
Hier findest du weitere Möglichkeiten, wie du die Menschen in der Ukraine und die anderen von der Krise betroffenen Menschen weltweit unterstützen kannst.