Vor über einem Jahr hat die COVID-19-Pandemie das Leben, wie wir es kannten, komplett verändert und angehalten. Doch inzwischen gibt es weltweit acht zugelassene Impfstoffe und über 1,2 Milliarden verabreichte Impfdosen. Um die Übertragung des Virus zu stoppen, müssen sie an genügend Menschen weltweit verimpft werden – nur so kann die nötige Herdenimmunität erreicht werden.
Eines der größten Hindernisse dabei ist der ungleiche Zugang zu Impfdosen. Vor allem im Moment, da das Angebot noch sehr begrenzt ist, klafft eine große Lücke: In Nordamerika etwa ist die Impfrate derzeit 35 Mal höher als in Afrika.
Emanuele Capobianco ist Direktor für Gesundheit und Pflege bei der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC). Mit Global Citizen sprach er darüber, wie wichtig globales Handeln für das Ziel der Herdenimmunität ist und erklärte, wie seine Organisation dabei hilft, das zu erreichen.
Global Citizen: Was würde es bedeuten, wenn wir eine weltweite Herdenimmunität erreichten und warum ist sie für das Beenden der Pandemie so entscheidend?
Capobianco: Um die Weltbevölkerung vor der weiteren Ausbreitung des Virus zu schützen, ist die Abdeckung mit einem Impfstoff eine Notwendigkeit. Erst wenn wir die sogenannte Herdenimmunität erreichen, können wir die Ausbreitung des Virus weltweit tatsächlich verlangsamen. Doch dafür wird eine Immunisierungsrate von 60 bis 70 Prozent benötigt. Wenn in einem Land also 90 Prozent geimpft sind und in einem anderen nur 20 Prozent, dann funktioniert das nicht.
Zudem ist es notwendig, die Impfungsrate innerhalb der einzelnen Länder zu erhöhen und sicherzustellen, dass es keine Gebiete mit einer hohen Impfungsrate und dafür marginalisierte Teile der Gesellschaft mit einer niedrigen Impfungsrate gibt. Derartige Ungleichheiten würden die Übertragung des Virus weiter anheizen. Deshalb kommt das Erreichen der Herdenimmunität in Ländern und über Ländergrenzen hinaus allen zugute: den Armen und den Reichen.
Wie steht die Ungerechtigkeit dem Erreichen der Herdenimmunität weltweit im Weg?
Für uns als Roter Halbmond ist es ganz klar, dass der Wert eines jeden Lebens gleich ist. Doch die politischen Entscheidungen der vergangenen Monate haben gezeigt, dass bestimmte Leben mehr wertgeschätzt und geschützt werden als andere.
Es überrascht dabei nicht, dass die Leben, die am wenigsten geschützt werden, diejenigen sind, die ohnehin schon am verletzlichsten sind. Es sind diejenigen Menschen, die den schwierigsten Zugang zu einer Gesundheitsversorgung haben, diejenigen, die keine Möglichkeiten haben, sich zu isolieren, weil sie an überfüllten Orten leben. Diejenigen, die keine Chance haben, zu Hause zu bleiben, weil sie arbeiten und sich so dem Risiko einer Infektion aussetzen müssen.
Lassen Sie mich ein paar Statistiken dazu nennen. Die Menschen in den 50 einkommensschwächsten Ländern der Welt haben bislang nur rund zwei Prozent der Impfdosen verabreicht bekommen. Die in den 50 einkommensstärksten Ländern hingegen wurden mit einer 27 Mal höheren Rate geimpft. Man kann es auch anders betrachten: Auf Menschen in Afrika entfällt ein Prozent der weltweit verabreichten Impfdosen, obwohl die Bevölkerung 14 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht. Die Ungleichheiten liegen direkt vor unseren Augen.
Was sind die Folgen einer Impfreihenfolge, die nicht für einen gerechten Zugang für alle Menschen sorgt?
Wenn wir nicht für einen gerechten Zugang sorgen, dann wird das, was in den einkommensschwachen Ländern, in denen weniger geimpft wird, passiert, letztlich auch Auswirkungen auf die Menschen in den Ländern mit hohem Einkommen haben – vor allem, wenn es um das Auftreten von neuen Virusvarianten geht. Wir könnten in eine Situation geraten, in der die Missachtung der Ärmsten zu einer neuen Pandemie mit einem Virus führt, das sich schneller und öfter überträgt, tödlicher ist und möglicherweise bei jüngeren Menschen für schwerere Verläufe sorgt als die bisherigen Varianten.
Die Rolle von Politiker*innen ist es, für ihre Bevölkerung zu sorgen. Deshalb ist es verständlich, dass es eine Prioritätensetzung geben kann. Gleichzeitig sollten sie sich aber bemühen, die Übertragung an anderer Stelle zu reduzieren. Was wir brauchen, ist die Fähigkeit von Politiker*innen, diese beiden Felder – den Schutz der eigenen Bevölkerung und die Solidarität mit anderen – derart zusammenzubringen, dass es zur besten Lösung für alle Menschen auf der ganzen Welt führt.
Was hat die IFRC unternommen, um einen gerechten Zugang zu COVID-19-Impfstoffen für die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten?
Wir sind eine humanitäre Organisation mit 14 Millionen Freiwilligen, die sich um die sozioökonomischen Bedürfnisse der am meisten gefährdeten Gruppen in 192 Ländern kümmern. Im Dezember 2020 haben wir ein ehrgeiziges Programm gestartet, das dafür sorgen soll, dass 500 Millionen Menschen bis zum Ende dieses Jahres geimpft werden können.
Auf den Malediven, wo viele (undokumentierte) Geflüchtete leben, konnte unsere Rothalbmondgesellschaft diese Menschen registrieren, sodass sie nun einen Impfstoff bekommen können. In Bangladesh war eine IFRC-Gruppe im Flüchtlingslager Cox’s Bazar sehr aktiv. Sie hat dort Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Freiwillige zur Verfügung gestellt, um die Geflüchteten in gesundheitlicher und sozioökonomischer Hinsicht zu unterstützen.
Auch im Amazonasgebiet in Brasilien, einem Land, das in den vergangenen Monaten massiv von COVID-19 betroffen war, sind unsere Freiwilligen im Einsatz und unterstützen bei der Bereitstellung von Dienstleistungen. Zudem versorgen wir in vielen Ländern Obdachlose und haben Programme zur Schadensbegrenzung für Drogenabhängige. Das ist es, was der Rote Halbmond in vielen Ländern versucht: herauszufinden, wo die Ungleichheiten am größten sind und dann unterstützend einzugreifen.
Wenn auch du dich für eine gerechte Verteilung der COVID-19-Impfstoffe einsetzen willst, dann werde hier aktiv.