Hila Limar, 32, ist Vorsitzende von Visions for Children. Der Verein hilft in Afghanistan und Uganda dabei, Schulen zu bauen und Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Aufgezeichnet von Jana Sepehr.
Ich weiß das Privileg, in einem sicheren Land wie Deutschland aufgewachsen und ausgebildet worden zu sein, zu schätzen. Wären meine Eltern damals nicht rechtzeitig aus Afghanistan geflohen, hätte ich vielleicht nie zur Schule gehen können. Ich hätte eines dieser Mädchen sein können, die wir heute mit unseren Projekten unterstützen. Das ist mir bewusst. Und dafür bin ich sehr dankbar.
Die Realität der Kinder ist von Krieg und Gewalt geprägt und damit einhergehend sind ihre Perspektiven unsicher. Ich wollte deshalb schon seit meiner frühen Kindheit etwas für die Bildung der Kinder, besonders die der Mädchen, in meinem Geburtsland Afghanistan tun.
Denn Bildung ist die Grundlage und der Schlüssel zu einem selbstständigen, selbstbestimmten und perspektivreichen Leben.
Vor 13 Jahren gründeten zwei Studienfreunde von mir, Mortaza und Naim, den Verein Visions for Children e.V. in Hamburg. Genau wie ich, waren die beiden Deutsch-Afghanen als Kleinkinder mit ihren Familien aus Afghanistan vor dem Bürgerkrieg geflohen. Im Jahr 2005, einige Jahre nach dem Sturz der Taliban, reisten sie in ihr Geburtsland zurück, und erlebten es in einer Aufblühstimmung. Das Land freute sich auf einen Neuanfang. Mädchen und Frauen kehrten endlich in die Schulen zurück, um zu lernen und zu lehren, war ihnen dies noch während der Talibanzeit streng untersagt.
Mortaza und Naim besuchten im Rahmen ihrer Reise verschiedene afghanische Schulen, und entschlossen sich im Anblick der maroden Schulgebäude, den Mangel an ausgebildeten Lehrer*innen und der insgesamt schlechten Bildungslage im Land, daran mitzuwirken, die Entwicklung Afghanistans voranzubringen. Sie wollten durch die Verbesserung der Bildungssituation dazu beitragen, dass in ihrem Herkunftsland dauerhafter Frieden einkehrt.
Seither sind wir nun 13 Jahre mit Visions for Children e.V. in Afghanistan tätig. Bislang gab es im Land einige Fortschritte: Seit 2001 wurden beispielsweise etwa 13.000 neue Schulen gebaut und die Einschulungsrate hat sich verneunfacht.
Doch noch immer sind 69 Prozent der Menschen (über 15 Jahren) Analphabeten – und 83 Prozent von ihnen sind Frauen.
Zudem sind die Unterrichtsbedingungen weiterhin schlecht. 44 Prozent der Schulen müssen ohne Gebäude auskommen – der Unterricht findet im Freien oder in Zelten statt, je nach Jahreszeit heißt das bei allen Wetterlagen von Minusgraden bis hin zu stechender Hitze ohne räumlichen Schutz versuchen dem Unterricht zu folgen. Sanitäranlagen bzw. Toiletten findet man nur selten vor. Zudem mangelt es an grundlegendem Mobiliar und Materialien wie Tischen, Tafeln, Kreide, Heften, Stiften und Schulbüchern.
Die schlechten Lernbedingungen schränken nicht nur die Bildungsqualität erheblich ein, sondern sorgen gleichermaßen dazu, dass Schüler nicht effizient lernen können, und viele von ihnen in Folge dessen sitzenbleiben. Tragisch, da es in Ländern wie Afghanistan für die meisten Kinder ein Privileg ist eine Schule besuchen zu können, anstatt, wie in der Regel, schon ab sehr jungen Jahren zum Familienunterhalt mitbeizutragen. Setzt man einmal alle Karten auf ein Kind und schickt es zur Schule, und performt dieses Kind dann mangelhaft und bringt schlechte Noten nachhause, entsteht vor allem seitens der Eltern Enttäuschung und Frust, welcher letzten Endes nicht selten im Schulabbruch des Kindes resultiert.
Zweimal im Jahr fliegen wir nach Afghanistan, um uns selbst ein Bild von unseren Projekten und dem Baufortschritt machen zu können und mit Lehrer*innen, Schüler*innen, Mitarbeiter*innen und Partnerorganisationen zu sprechen. Doch jede Reise ist auch mit einem hohen Risiko verbunden. Insbesondere jetzt, wo in Afghanistan die Präsidentschaftswahlen anstehen. Vor diesen potenziert sich die Gefahrenlage im Land nochmal: mehr Gewalt, mehr Anschläge, mehr Selbstmordattentäter und Detonationen. Erst Ende Juli 2019 war der erste Wahlkampftag von einem schweren Anschlag überschattet worden - bei einem Autobomben-Angriff auf das Büro des Vizepräsidentenkandidaten wurden mehr als 20 Menschen getötet.
Es herrscht Ausnahmezustand in Kabul, wenn die politische Lage angespannt ist.
Regierungsviertel und wichtige Gebäude werden verbarrikadiert und Termine abgesagt, weil keine „Fremden“ die Regierungsgebäude und Institutionen betreten dürfen. Die Straßen sind kaum zugänglich und mit zahlreichen Check-Points versehen. Die meisten ausländischen Kollegen bleiben während dieser Zeiten meist aus Sicherheitsgründen in ihren Compounds und begeben sich nur in sehr seltenen Fällen auf die Straßen.
Die Anschläge sind für jeden in Kabul gefährlich, ob nun „Einheimischer“ oder „Ausländer“. Die letzten Ziele, u.a. eine private Hochzeitsfeier bei der 63 Menschen ums Leben kamen, waren so wahllos gewählt, dass für Ausstehende kein System erkennbar ist. Sich nun als ausländische NGO Mitarbeiterin wie ich es bin, im Land fortzubewegen und die Arbeit fortzuführen wird stark erschwert, denn wir sind ähnlich unbeliebt wie Aktivist*innen oder Journalist*innen und machen uns damit zur Zielscheibe für Angriffe und Entführungen. Im Mai haben aufständische Taliban das Büro der internationalen Hilfsorganisation Counterpart International in Kabul angegriffen und nach Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums 18 Menschen getötet. Anfang September 2019 wurde von den Taliban das Green Village, ein Gebiet, in dem internationale Institutionen und Hilfsorganisationen ansässig sind, angegriffen. 119 Menschen wurden verletzt und 16 Zivilisten starben.
Dass meine Eltern, meine Freunde und Verwandten in Deutschland mir abraten nach Kabul zu fliegen, weil es “zu gefährlich ist”, ist mir nicht neu. Doch wenn mein Kollege Zabi aus Kabul sagt, dass es zu gefährlich ist, dann ist es wirklich ernst.
Doch nicht nur die schwierige Sicherheitslage macht die Arbeit vor Ort zu einer Herausforderung. Auch die Finanzierung von Projekten in Krisenregionen ist mit vielen Hürden verbunden. Zwar werden wir seit einigen Jahren vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt, doch größere Unternehmen und Stiftungen scheuen sich häufig davor, an Projekte in Afghanistan zu spenden – meist mit der Begründung, dass nicht gewährleistet werden könne, dass das Gebäude übermorgen noch steht. Somit bringen Spenden nach Afghanistan ein großes Risiko mit sich, da keine langfristige Nutzung garantiert werden kann. Die Haltung ist aus unternehmerischer Sicht nachvollziehbar, nur aus unserer Sicht können die Unruhen auch nicht enden, wenn man tatenlos zusieht. Wir können nicht wegschauen, wenn unschuldigen Kindern die Perspektiven genommen werden und die Missstände akzeptieren. Daher ist es unsere Verantwortung weiterhin für unsere Mitmenschen in Afghanistan einzustehen, in das Land zu investieren, den Aufbau zu fördern, Fortschritt zu erzielen, damit die Afghanen zur Ruhe kommen und eines Tages in Frieden leben können.
Doch nicht nur die schwierige Sicherheitslage macht die Arbeit vor Ort zu einer Herausforderung. Auch die Finanzierung von Projekten in Krisenregionen ist mit vielen Hürden verbunden. Zwar werden wir seit einigen Jahren vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt, doch größere Unternehmen und Stiftungen scheuen sich häufig davor, an Projekte in Afghanistan zu spenden – meist mit der Begründung, dass nicht gewährleistet werden könne, dass das Gebäude übermorgen noch steht. Somit bringen Spenden nach Afghanistan ein großes Risiko mit sich, da keine langfristige Nutzung garantiert werden kann.
Doch Aufgeben ist für uns keine Option. Wir können und wollen die Missstände nicht akzeptieren und schauen nicht weg, wenn Kindern die Perspektiven genommen werden. Wir begreifen es als unser aller Verantwortung für unsere Mitmenschen einzustehen, egal wo. Gerade in Afghanistan, möchten wir durch unsere Biografien, Geschichten und Erfolge aktiv den Wiederaufbau des Landes fördern und zum Fortschritt beitragen, sodass Afghanen eines Tages endlich in Frieden leben können.